# taz.de -- Film „Armand“ mit Renate Reinsve: Bereit, den Boden unter den F… | |
> Der Regisseur Halfdan Ullmann Tøndel kreist in seinem Debütfilm „Armand“ | |
> um das Unaussprechliche. Er zeigt einen Elternabend der Entladungen. | |
Bild: Wo es was zu klären gibt: Elisabeth (Renate Reinsve), dahinter Sarah (El… | |
So viel vorweg: Nur ein einziges Mal wird der sechsjährige Armand in | |
Halfdan Ullmann Tøndels Film vor die Kamera treten – schlafend, unschuldig. | |
Das Kind, um das es im Debütfilm des Enkels von Liv Ullmann und Ingmar | |
Bergman geht, ist eine Leerstelle, ein Platzhalter, eine Projektionsfläche. | |
Dabei ist das Gewese um seine Person nicht gerade klein: Gleich in der | |
ersten Szene von „Armand“ sieht man Mutter Elisabeth (Renate Reinsve) durch | |
norwegische Wälder Richtung Schule rasen. Agilität und Stress sprechen aus | |
den Bildern, Schweiß glänzt auf Elisabeths Stirn, der gemeinsam mit ihren | |
riesigen Strassohringen um die Wette glitzert. | |
Wüsste man nicht, dass sich Tøndel gerade auf dem Weg in ein Kammerspiel | |
befindet, könnte man glauben, man wäre in ein Actiondrama geraten. Oder in | |
einen Horrorfilm: Denn kurz darauf baut sich schon jene Schule auf, in der | |
es zum Vorfall um Armand gekommen sein soll. Ein imposant eingefangenes, | |
Unheil verkündendes Gebäude, ein Spukschloss samt blutrot gefliester Bäder | |
und einem Feueralarm, der sich andauernd von selbst anstellt. | |
Aber was ist eigentlich passiert? Das nach viel verdruckstem Geplänkel und | |
mit hörbarem Unwohlsein vorgetragene Protokoll schildert Folgendes: Armand | |
soll den gleichaltrigen Jon (auch er bleibt lediglich Name) auf einer | |
Schultoilette sexuell bedrängt haben. Für derart junge Kinder untypische | |
Wörter wie „ficken“ und „anal“ seien gefallen, im Anschluss habe Jon e… | |
verkratztes Gesicht und blaue Flecken aufgewiesen. So weit, so beklemmend. | |
Doch hat das Szenario wirklich stattgefunden? | |
Davon gehen die Eltern des Opfers, Sarah (Ellen Dorrit Petersen) und Anders | |
(Endre Hellestveit) jedenfalls aus. Teils bekümmert, teils kampfbereit | |
hocken sie im Klassenzimmer und warten auf Elisabeth, Schauspielerin | |
inmitten einer Lebenskrise, die von all dem erst jetzt erfährt. Pikant: | |
Elisabeth und Sarah waren bis vor Kurzem Freundinnen, Jon verkehrte | |
regelmäßig in Elisabeths und Armands Wohnung, einem Ort, den Sarah nun als | |
„Hölle“ bezeichnet. | |
## Wie Uneindeutiges umgedeutet wird | |
Und noch ein weiteres Phantom, quasi ein dritter Junge, setzt sich zwischen | |
die aufgeriebenen Erwachsenen: Thomas. Sarahs Bruder und Elisabeths Mann, | |
Vater von Armand, tot. Er starrt uns als Kindergesicht entgegen, eines von | |
Hunderten, die, eingefasst in Bilderrahmen, im Schulflur hängen. Sein Geist | |
ruft für alle Beteiligten andere Assoziationen, Erinnerungen hervor. Kurz: | |
Es ist kompliziert. Und keineswegs ist Halfdan Ullmann Tøndel daran | |
interessiert, es leichter zu machen, im Gegenteil. | |
Denn nicht nur wirft er die tatsächlich brisante Frage auf, wie mit | |
Aussagen von Kindern zu verfahren sei ([1][„Die Jagd“ von Thomas | |
Vinterberg] illustrierte einst eine regelrechte Abwärtsspirale) – er will | |
auch herausfinden, warum und wie Uneindeutiges für eigene Agenden | |
missbraucht und umgedeutet wird. Als Instrument wählt er das Bild, den | |
Affekt, und weniger, wie sonst üblich, das Wort. Man könnte sagen: „Armand�… | |
steht unter dem Bann des inneren Furors. | |
Dafür geizt Tøndel nicht mit filmischen Gesten. Metaphorisches wird | |
ausgereizt, Räume verschieden künstlich ausgeleuchtet, früher oder später | |
verlieren hier alle die Fassung. Als norwegische Variante von [2][„Das | |
Lehrerzimmer“] gehandelt, baut Tøndel das Konstrukt Schule zur Bühne um. | |
Eine, die sich drehen kann, wo auch Backstage die Kameras lauern, und, man | |
glaubt es kaum, sogar getanzt wird. | |
## Das psychische Auseinanderbrechen der Protagonisten | |
Analytisch und sachgebunden wie bei İlker Çatak ist es eigentlich nur, wenn | |
Schulpersonal und Eltern sich selbst inszenieren – zur vernünftigen | |
Aussprache unter Erwachsenen. Ein Setting, an das nicht einmal Schulleiter | |
Jarle (Øystein Røger) zu glauben scheint. Nervös sitzen er, | |
Nachwuchslehrerin Sunna (Thea Lambrechts Vaulen) und die unter ständigem | |
Nasenbluten leidende Ajsa (Vera Veljovic) vor den Vormündern. Lange halten | |
sie es nie miteinander aus, trotzdem wird jenes dunkle Klassenzimmer zum | |
Anker eines Films, der das psychische Auseinanderbrechen seiner | |
Protagonisten sichtbar machen will. | |
Letzteres geschieht vor allem in unabgeschlossenen Räumen und auf dämmrigen | |
Fluren. Hier diffundieren die Emotionen, und Tøndel beobachtet sie gern. | |
Sie gerinnen etwa zu Tänzen, die Elisabeth mit einer Putzkraft spontan | |
vollführt, und die ein wenig an expressivere Momente ihrer Rolle der Julie | |
in [3][Joachim Triers „Der schlimmste Mensch der Welt“] erinnern. Sowieso | |
labt sich Halfdan Ullmann Tøndel am körperlichen, blitzschnellen und | |
trotzdem trägen Spiel Reinsves, inszeniert eine Fragilität, die doch | |
gleichzeitig einen sehr festen Stand besitzt. | |
Andere lassen indes in bläulich schimmerndem Licht ihre Masken fallen, alte | |
Wunden brechen auf, es gibt Geheimnisse, die man auch vor sich selbst | |
bewahren möchte. „Armand“ spielt mit diesen tieferen Lagen, rückt sie ins | |
Zentrum und ist sich auch nicht zu schade, sie gelegentlich etwas zu | |
plakativ in Szene zu setzen. Bereits in Tøndels Kurzfilm „Fanny“ (2018) war | |
eine junge Frau mit alten Traumata konfrontiert, wobei diese nie konkret | |
benannt wurden. Im entscheidenden Moment verlor Fanny die Sprache, Wut | |
machte sich stattdessen breit, Verzweiflung. | |
## Ein Nachmittag, der kein Ende findet | |
Auch „Armand“ kreist ums Unaussprechliche, Unerträgliche. Wobei selten klar | |
wird, wie schlimm es wirklich um den Einzelnen steht. Alle übersteuern, | |
werden heimgesucht, auch wenn es sich dabei vielleicht nur um den eigenen | |
professionellen Anspruch einer Konfliktlösung handelt, die sich mit | |
Unvermögen paart. | |
Der Nachmittag in der Schule zumindest findet kein Ende. Immerfort müssen | |
alle aufstehen, Pause machen, Heimlichkeiten austauschen, über die Flure | |
gleiten. Dem beizuwohnen, bereitet durchaus Vergnügen – Tøndels | |
verflochtene Melange aus Horror, Sozialdrama, Komödie und Satire steigert | |
sich bisweilen aber auch ins Absurde. | |
Diese Regie möchte alles fasslich werden lassen und dabei trotzdem | |
geheimnisvoll bleiben. Sie schenkt Aufklärung und gefällt sich gleichzeitig | |
im Unklaren. Es ist ein künstlich-künstlerischer Zustand, für den | |
[4][Halfdan Ullmann Tøndel in Cannes mit der Caméra d’Or ausgezeichnet | |
wurde], dem Preis für das beste Debüt. Und tatsächlich gelingt es ihm immer | |
wieder, ein knallhartes Thema mit einer ästhetischen Ambition zu verbinden. | |
„Armand“ möchte mehr sein als Schuldrama mit messerscharfem Dialog. Er ist | |
bereit, den Boden unter den Füßen zu verlieren. | |
Das ist kein kleines Ansinnen, es kommt mit einer gewissen Fallhöhe. Wie | |
Elisabeths zehnminütiger, unkontrollierbarer Lachanfall, während dem ihr | |
irgendwann die Spucke in Fäden aus dem Mund läuft. Oder Sarahs bestialische | |
Geste in Richtung ihres Gatten, bei der sich etwas Dämonisches offenbart, | |
sodass einem wirklich für einen Moment angst und bange wird. | |
Es sind Entladungen, die Kameramann Pål Ulvik Rokseth nahezu | |
schlafwandlerisch aufnimmt. Wie eine unsichtbare dritte Instanz bewegt sie | |
sich selbstständig, passt sich Tempo und Energie aller an, die sie ins | |
Visier nimmt. Eine Methode, die auch für die Willkür steht, um die es in | |
„Armand“ ebenfalls geht: Je nachdem, worauf man seinen Fokus richtet, | |
stellen sich die Dinge unterschiedlich dar, gelangt man zu anderen | |
Schlüssen und Standpunkten. Oder wie Tøndel es selbst in einem Interview | |
formuliert: „Jeder hat seine Geschichte. Wem wollen wir glauben?“ | |
14 Jan 2025 | |
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## AUTOREN | |
Carolin Weidner | |
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