| # taz.de -- Krieg in der Ukraine: Gezeichnet für das ganze Leben | |
| > Der Ukrainer Maxim Kolesnikow war elf Monate lang in russischer | |
| > Kriegsgefangenschaft. Wie viele andere berichtet er von Willkür, Folter | |
| > und täglicher Gewalt. | |
| Bild: Endlich wieder zuhause: Eine Ehefrau begrüßt ihren Mann nach der Freila… | |
| Kyjiw taz | Ein großer, schlaksiger Mann mit kurz geschnittenen Haaren | |
| steht in einer verschneiten Landschaft und bekommt einen Stoffbeutel | |
| gereicht. Er holt einen roten Apfel heraus. „Das erste Obst seit einem | |
| Jahr“, sagt er und beißt hinein. Seine Augen weiten sich. Der Moment ist | |
| auf Video festgehalten. Viele Ukrainer haben diese Szene eines | |
| Gefangenenaustausches gesehen. Der Moment war wie ein zweiter Geburtstag | |
| für ihn, sagt Maxim Kolesnikow. Er ist der Mann mit dem Apfel. | |
| Doch bis er wieder Obst essen durfte, musste er lange warten und viel | |
| ertragen. Die Szene mit dem Apfel ist rund zwei Jahre her und noch immer | |
| seien viele Ukrainer – sowohl Soldaten als auch Zivilisten – in | |
| russischer Gefangenschaft. Ein Teil von ihnen würde wohl nie zurückkehren. | |
| Deshalb sei es ihm wichtig, darüber zu sprechen sagt er. | |
| Am vergangenen Sonntag hatten Russland und die Ukraine einen umfangreichen | |
| Gefangenenaustausch beendet. In drei Tagen wurden 1.000 Gefangene | |
| gegenseitig ausgetauscht. [1][Darauf hatten sich die Parteien bei | |
| Gesprächen in Istanbul am 16. Mai geeinigt]. | |
| Bei den Gefangenen handelte es sich sowohl um Soldaten als auch um | |
| Zivilisten. Der Umfang ist bedeutsam. Bis März waren nach ukrainischen | |
| Angaben 4.306 Ukrainer aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. | |
| [2][Häufig sehen die Freigelassenen dabei so schlecht aus], wie der Mann | |
| mit dem Apfel – oder schlimmer. | |
| ## Nicht mehr der Alte | |
| In einem Kyjiwer Lokal hat sich Kolesnikow um die Mittagszeit eine Pause | |
| genommen. Er arbeitet inzwischen im Management bei der Post. Das Büro sei | |
| nicht weit. Schlank ist er immer noch, aber die Haare sind länger und er | |
| ist nicht mehr so blass wie in dem Video. Doch er sei nicht mehr der Alte, | |
| sagt er und zeigt Fotos auf dem Smartphone – von vor seiner Gefangenschaft. | |
| Man erkennt sein Gesicht sofort, aber der Mann auf dem Foto hat eine breite | |
| Brust und kräftige Oberarme, sein T-Shirt spannt. „Ich habe regelmäßig im | |
| Gym trainiert“, erzählt er. Doch die Muskeln kommen nicht zurück. Die | |
| Unterernährung habe seinen Stoffwechsel gestört. „Ich habe in der | |
| Gefangenschaft 32 Kilogramm verloren.“ Nun habe er eine Muskelatrophie in | |
| den Beinen. | |
| Maxim Kolesnikow ist 47 Jahre alt. Vor Russlands großangelegter Invasion | |
| der Ukraine vor mehr als drei Jahren hat er im Marketing bei einem | |
| Finanzdienstleister gearbeitet. Geboren ist er in der seit 2014 besetzten | |
| Industriemetropole Donezk. Mit seiner Frau und den beiden Töchtern lebte er | |
| in Kyjiw. „Am 24. Februar 2022 habe ich gleich meinen Rucksack gepackt“, | |
| erinnert er sich. Er wusste, dass er zur Armee eingezogen werden würde. | |
| Schon 2015 war er für ein Jahr mobilisiert worden. Er hatte Erfahrung. „Ich | |
| wusste, dass es ein langer Krieg werden würde.“ Seine Frau und die beiden | |
| Töchter flüchteten nach Spanien. | |
| Seine Brigade wurde eingesetzt, um den russischen Vormarsch auf Kyjiw zu | |
| stoppen. Am achten Kriegstag wurde Kolesnikows Einheit abgeschnitten. Ein | |
| paar Tage später begannen die russischen Angreifer ihre Stellung zu | |
| stürmen. Beim Beschuss mit einem Mehrfachraketenwerfer wurde er durch | |
| Splitter am Knie verletzt. Nach mehreren Tagen Kampf musste seine Einheit | |
| aufgeben. „Wir hatten viele Tote und Verwundete zu beklagen.“ | |
| ## Unter Putins Kommando | |
| Die Einheit, die Kolesnikow gefangen nahm, sei eine Elitetruppe gewesen. | |
| „Sie trugen neue Ausrüstung und Waffen. Sie waren nicht sehr emotional.“ | |
| Seine Hände seien mit einer Plastikfessel zusammengebunden worden. „Der | |
| Offizier sagte uns, er halte sich an die Genfer Konvention.“ Am nächsten | |
| Tag seien die Gefangenen an die Rosgwardia übergeben worden. „Die haben | |
| sofort angefangen uns zu schlagen.“ | |
| Diese Truppen zur Aufstandsbekämpfung sind unabhängig von der russischen | |
| Armee und unterstehen direkt Wladimir Putin. Mit einem Gefängnisbus habe | |
| man sie sechs Stunden nach Belarus gefahren und in der Lagerhalle einer | |
| alten Fabrik eingesperrt. „Wir mussten uns alle an einer Wand aufstellen. | |
| Dann wurden wir geschlagen.“ Medizinische Hilfe habe es nicht gegeben. | |
| Nach zwei Tagen wurden die Gefangenen in ein früheres | |
| Untersuchungsgefängnis in der russischen Region Brjansk gebracht. Dort | |
| seien nur Ukrainer eingesperrt gewesen. Mehrheitlich Zivilisten. „In meiner | |
| Zelle für zehn Personen waren vier Soldaten und zehn Zivilisten. Der | |
| älteste 65 Jahre alt.“ Von März bis Ende Juni durften sie kein einziges Mal | |
| an die frische Luft gehen. | |
| Er selbst sei viermal verhört worden. „Ein Staatsanwalt interessierte sich | |
| für meine Teilnahme an den Protesten auf dem Maidan 2014.“ Bei zwei | |
| Verhören durch den Geheimdienst sei nach Nuklear- und Biowaffen gefragt | |
| worden. „Wenn ihnen die Antworten nicht gefielen, haben sie mich mit dem | |
| Gummiknüppel geschlagen.“ Schläge gab es ohnehin jeden Morgen und Abend. | |
| Auch Elektroschocks wurden eingesetzt. Einem Mitgefangenen seien Elektroden | |
| an die Hoden angeschlossen worden. Aber der wolle darüber nicht öffentlich | |
| sprechen. | |
| ## Voller Überraschungen | |
| „Es wurde erst etwas einfacher, nachdem sie die Liste mit unseren Namen an | |
| das Internationale Komitee vom Roten Kreuz geschickt hatten.“ Erst dann | |
| durften die Gefangenen auch einen kurzen Brief an ihre Familien schreiben. | |
| „Nur, dass wir am Leben und in Kriegsgefangenschaft waren.“ | |
| Die Wachmannschaften wechselten jeden Monat. „Im November waren es | |
| Tschetschenen. Sie haben uns wieder geschlagen. Wir durften nicht sitzen | |
| und nicht sprechen.“ Von seinem Austausch erfuhr er dann kurzfristig. In | |
| elf Monaten habe er kein einziges Mal einen Vertreter des Roten Kreuzes | |
| gesehen. An einem Grenzübergang in der Region Sumy war es dann am 4. | |
| Februar 2023 so weit: der Tag mit dem Apfel. | |
| Die Rückkehr in die Freiheit sei für ihn voller Überraschungen gewesen. | |
| „Wir hatten ja keine Informationen außer hin und wieder der Propaganda im | |
| Ersten russischen Kanal.“ Er habe erwartet, dass Kyjiw völlig zerstört sei, | |
| stattdessen lief die Wirtschaft und die Supermärkte waren geöffnet. | |
| „Wochenlang habe ich Videos geschaut und versucht nachzuvollziehen, was | |
| alles passiert ist: die Versenkung des Kreuzers „Moskwa“, die Offensive in | |
| der Region Charkiw, die Befreiung von Cherson.“ | |
| Die Gefangenschaft und seine Verletzungen werden Maxim Kolesnikow sein | |
| Leben lang begleiten. „Ich habe Titanteile in meinem Knie. Ich kann nicht | |
| mehr rennen und nicht mehr springen.“ Nach seinem Austausch musste er | |
| mehrmals operiert werden. Nach einer Reha arbeitete er noch ein paar Monate | |
| im Hauptquartier seiner Brigade im Büro, bis er schließlich ausgemustert | |
| wurde. | |
| ## 104 Interviews | |
| Er ist einer von Tausenden. Im März stellte die Menschenrechtsorganisation | |
| Amnesty International die Studie „Deafening Silence. Enforced | |
| disappearances, incommunicado detention and torture of Ukrainian prisoners | |
| by Russia“ (Ohrenbetäubendes Schweigen. Erzwungenes Verschwindenlassen, | |
| Isolationshaft und Folter ukrainischer Gefangener durch Russland) in Kyjiw | |
| vor. Die Ergebnisse seien für viele Ukrainer nicht überraschend, aber die | |
| internationale Gemeinschaft müsse das hören, sagte Veronika Welch, die | |
| Direktorin von AI Ukraine. | |
| Der Bericht stellt fest, dass derzeit Tausende Ukrainer, sowohl | |
| Kriegsgefangene als auch Zivilisten, in Russland und den von Russland | |
| besetzten Gebieten gefangen gehalten werden. „Die meisten ukrainischen | |
| Kriegsgefangenen werden ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten und ihre | |
| Familien erhalten kaum Informationen über ihr Schicksal, ihren Status oder | |
| ihren Aufenthaltsort“, heißt es darin. 104 Interviews wurden für die | |
| Untersuchung geführt. | |
| Die russischen Behörden gewähren internationalen Organisationen keinen | |
| Zugang zu ukrainischen Kriegsgefangenen. Damit verfolgen sie eine bewusste | |
| Politik, diese dem Schutz des Völkerrechts zu entziehen. „Fast alle von uns | |
| befragten ukrainischen Kriegsgefangenen gaben an, dass Folter systematisch | |
| und auf allen Ebenen stattfindet: bei der Aufnahme, wenn sie zum ersten Mal | |
| gefangen genommen werden, und während der gesamten Gefangenschaft. | |
| Dazu gehören beispielsweise Folter mit Elektroschocks, sexueller Missbrauch | |
| und Weiteres“, sagte Welch. Russlands Behandlung ukrainischer | |
| Militärangehöriger und Zivilisten in Gefangenschaft verstoße gegen die | |
| Genfer Konventionen und alle Formen des Völkerrechts. | |
| ## Nichts für schwache Nerven | |
| Wie Russland Kriegsgefangene behandelt, ist in einem schmalen Buch | |
| zusammengefasst. Der ukrainische Ombudsmann für Menschenrechte, Dmytro | |
| Lubinets, stellte es in Kyjiw vor. Es trägt den Titel „Die Moskauer | |
| Konvention“ und stellt den Regeln der Genfer Konvention die russische | |
| Realität gegenüber. Es ist nichts für schwache Nerven. | |
| Russland breche praktisch jede Regel: Gefangene werden geschlagen, ihnen | |
| werden Nahrung, Hygiene und medizinische Hilfe vorenthalten, sie dürfen | |
| keine Korrespondenz austauschen. All das ist natürlich verboten. Zu allem | |
| gibt es Aussagen Überlebender. „95 Prozent der Gefangenen werden | |
| gefoltert“, sagt Lubinets. „Wenn das ungestraft bleibt, wird es sich | |
| wiederholen.“ | |
| Häufig kommt es auch vor, dass die russischen Truppen keine Gefangenen | |
| machen. Immer wieder gibt es von Drohnen aufgenommene Videos, die zeigen, | |
| wie ukrainische Soldaten erschossen werden, nachdem sie sich bereits | |
| ergeben haben. Es gab auch Fälle, dass die russischen Soldaten sich selbst | |
| dabei filmten, wie sie Gefangene folterten und ermordeten. Ein Video zeigt, | |
| wie ein russischer Soldat einen gefangenen Ukrainer mit einem | |
| Teppichmesser kastriert. | |
| ## Deutlich mehr Hinrichtungen | |
| Anfang Februar meldete die UN-Menschenrechtsbeobachtungsmission in der | |
| Ukraine einen starken Anstieg gemeldeter Hinrichtungen ukrainischer | |
| Soldaten, die von russischen Streitkräften gefangen genommen worden waren. | |
| Seit Ende August 2024 verzeichnete die Mission 79 solcher Hinrichtungen bei | |
| 24 einzelnen Vorfällen. | |
| „Diese Vorfälle geschahen nicht im luftleeren Raum. Persönlichkeiten des | |
| öffentlichen Lebens in der Russischen Föderation haben ausdrücklich zu | |
| unmenschlicher Behandlung und sogar Hinrichtung gefangener ukrainischer | |
| Militärangehöriger aufgerufen“, sagte Danielle Bell, Leiterin der Mission. | |
| „In Verbindung mit umfassenden Amnestiegesetzen haben solche Aussagen das | |
| Potenzial, zu rechtswidrigem Verhalten aufzustacheln oder zu ermutigen.“ | |
| Das humanitäre Völkerrecht verbiete es, anzuordnen, dass es keine | |
| Überlebenden geben darf, einem Gegner damit zu drohen oder auf dieser | |
| Grundlage Feindseligkeiten zu führen. Die Erklärung, dass „keine Gnade“ | |
| gewährt wird, ist ein schwerwiegender Verstoß gegen das humanitäre | |
| Völkerrecht und ein Kriegsverbrechen. | |
| Hinweis: In der Dachzeile stand ursprünglich „Russische Kriegsgefangene“. | |
| Das passte nicht zum Inhalt des Textes. Wir haben das korrigiert. | |
| 26 May 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Marco Zschieck | |
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