# taz.de -- Oppositionelle in Belarus freigelassen: „Das ist keine Gerechtigk… | |
> Der ehemalige belarussische Präsidentschaftskandidat Tichanowski | |
> berichtet: Vor seiner Freilassung habe das Regime ihn zwangsernährt – für | |
> die Kameras. | |
Bild: Ihm kommen die Tränen: Auf einer Pressekonferenz in Vilnius erzählt Ser… | |
Vilnius taz | Ein hagerer, ausgezehrter Mann mit einem breiten Lächeln | |
tritt in einem Konferenzsaal in Vilnius ans Mikrofon. Innerhalb einer | |
Minute ist er von Tränen überwältigt. Es ist [1][Sergei Tichanowski], | |
ehemaliger Präsidentschaftskandidat in Belarus und Ehemann der im Exil | |
lebenden [2][Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja]. Nach fünf Jahren | |
in einem belarussischen Gefängnis kann er an diesem Sonntag zum ersten Mal | |
wieder vor die Öffentlichkeit treten. | |
Die Freilassung von Tichanow und dreizehn weiteren politischen Gefangenen | |
kam völlig überraschend. Sie fiel zeitlich mit einem Besuch des | |
Sonderbeauftragten des US-Präsidenten Donald Trump, Keith Kellogg, beim | |
belarussischen Machthaber Aleksander Lukaschenko zusammen. Warum der | |
Diktator sich entschlossen hat, seinen persönlichen Feind Tichanowski | |
freizulassen, bleibt offen. | |
Tichanowskis emotionale Schilderung seines Lebens im Gefängnis – oder | |
akkurater gesagt: seines Überlebens unter unmenschlichen Bedingungen – ist | |
ein eindringliches Zeugnis dafür, wie das Lukaschenko-System mit seinen | |
Gegnern umgeht. „Das Regime ist brutal“, sagt er unter Tränen. „Wahnsinn… | |
und Mörder sitzen in Nachbarzellen und schauen fern. Das ist keine | |
Gerechtigkeit. Das ist ein System, das darauf ausgelegt ist, die Würde zu | |
zerstören.“ | |
Tichanowski ist überzeugt, dass er Teil eines politischen Spektakels | |
geworden ist. Während politische Gefangene im Gefängnis sterben und andere | |
körperlich und seelisch gebrochen freigelassen werden, posiert Lukaschenko | |
vor den Kameras und prahlt mit seiner „Menschlichkeit“. „Wenn der | |
Lukaschenkoismus nicht gestoppt wird, werden diejenigen, die die Wahrheit | |
suchen, noch stärker unterdrückt werden“, betont er. | |
## Tichanowskis Kinder erkannten ihn nicht wieder | |
Er erzählt: Der schwerste Moment nach seiner Freilassung sei das | |
Wiedersehen mit seinen Kindern gewesen. Als er darüber spricht, kann er | |
seine Tränen nicht zurückhalten. „Sie standen vor mir … und erkannten mich | |
nicht. Sie sahen mich nur an wie einen Fremden. Fünf Jahre sind für ein | |
Kind eine Ewigkeit.“ | |
Trotz seiner schwierigen emotionalen Lage hat Tichanowski diejenigen nicht | |
vergessen, die weiterhin Geiseln des Lukaschenko-Regimes sind. Seinen | |
Angaben zufolge wird der kommende Monat entscheidend sein. Denn Tichanowski | |
berichtet von Insiderinformationen, nach denen alle politischen Gefangenen | |
freigelassen werden könnten. All dies sei Teil der Verhandlungsmasse des | |
Diktators – der alles daran setzen werde, diese Menschen so teuer wie | |
möglich zu „verkaufen“. Im Gegenzug wolle er die Aufhebung der Sanktionen | |
gegen Belarus erreichen. | |
Das Regime wird die Freilassungen als großzügige Geste des guten Willens | |
und als Wunsch nach Annäherung an den Westen präsentieren. Tichanowski | |
betont: Seine Freilassung sei vorbereitet worden; vor etwa einem Monat habe | |
man begonnen, ihn zwangsweise zu ernähren, damit er vor den Kameras so | |
auftreten könne, [3][als sei ihm nichts zugestoßen]. Aber selbst das half | |
nicht – statt wie der stattliche, große Mann, als den ihn viele Belarussen | |
vor seiner Inhaftierung im Jahr 2020 in Erinnerung hatten, sah er aus wie | |
ein Häftling aus dem Gulag. | |
Das Gleiche geschieht mit [4][politischen Gefangenen, die noch auf ihre | |
Freilassung warten]. Jede Minute, die sie unter unmenschlichen Bedingungen | |
verbringen, zerstört ihre Gesundheit und ruiniert ihre Psyche. Deshalb muss | |
jeder freie Mensch Tichanowskis Appell hören: „Seien Sie nicht gleichgültig | |
gegenüber dem Unglück anderer, sprechen Sie darüber. Und vergessen Sie | |
nicht, dass Schweigen und Gleichgültigkeit töten“. | |
Aus dem Englischen Lisa Schneider | |
Alexandrina Glagoljewa ist Journalistin aus Belarus und lebt heute im | |
Baltikum im Exil. Sie ist Alumni der Osteuropa-Workshops der taz Panter | |
Stiftung. | |
23 Jun 2025 | |
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## AUTOREN | |
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