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# taz.de -- Regisseurin über ihren Film „Harvest“: „Ich wollte, dass die…
> Athina Rachel Tsangari erzählt in ihrem „Punk“-Film „Harvest“ von ei…
> verschwindenden Natur. Gedreht hat sie mit einem unbändigen
> Hauptdarsteller.
Bild: Scheinbar intakte Idylle: Dorfgemeinschaft in „Harvest“ beim Feuerlö…
Ein scheinbar idyllisches Dorf in den schottischen Highlands. Die Menschen
leben im Einklang mit der Natur. Bis eine Scheune brennt. Und Fremde in den
Ort kommen und Ansprüche stellen, an denen die Gemeinde zugrunde geht. Die
griechische Regisseurin [1][Athina Rachel Tsangari („Attenberg“)] erzählt
in ihrem ersten [2][englischsprachigen Film „Harvest“] eine
postapokalyptische Westernparabel über Landnahme und den Ursprung von
Industrialisierung und Kapitalismus. Im Gespräch erzählt die 58-Jährige von
kreativem Chaos, kollektivem Arbeiten und ihrem unbändigen Hauptdarsteller.
taz: Frau Tsangari, Ihr Film „Harvest“ basiert auf dem gleichnamigen Roman
von Jim Crace, der 2013 erschien und für den Booker Price nominiert war,
aber bislang nicht ins Deutsche übersetzt wurde. Erinnern Sie sich, wann
Sie ihn entdeckt haben und was er in Ihnen ausgelöst hat?
Athina Rachel Tsangari: Der Roman wurde mir von meinen Produzent*innen
empfohlen. Eigentlich adaptiere ich keine fremden Stoffe, meine bisherigen
Filme beruhen auf Drehbüchern, die ich selbst geschrieben habe. Aber sie
ahnten wohl, dass ich in dem Roman sehr Persönliches entdecken würde.
Die Adaption war dann wie ein Geschenk mitten in der Pandemie, die ich mit
meinem Mann auf einer kleinen Insel in Griechenland verbrachte, ein kleiner
Felsen mitten in der Ägäis. Dort habe ich darüber nachgedacht, was es
bedeutet, in der Einöde Schottlands zu leben, abgeschnitten von der Welt
außen herum. Und dann plötzlich Fremde auftauchen und sich alles verändert.
taz: Inwieweit haben Sie sich den Stoff zu eigen gemacht?
Tsangari: Es ist kein gewöhnliches Buch und es bietet sich nicht für eine
klassische Adaption an. Ich wusste zunächst nicht, was ich damit anfangen
soll, das ländliche England war weit weg von meinem Leben. Der Roman ist
als innerer Monolog erzählt, eine Art Bewusstseinsstrom. Walter Thirsk ist
allwissender Erzähler, der gleichzeitig passiv beobachtende Hauptfigur ist,
die Definition eines Antihelden. Jemand, der sich schuldig fühlt für seine
Untätigkeit, für das Miterleben des Endes eines Paradieses, damit konnte
ich mich identifizieren.
Diese Dorfwelt wird innerhalb einer biblischen Woche komplett ausgelöscht.
Ich wollte es wie eine Fabel erzählen, mit Gesichtern, in denen man den
Wechsel von Unschuld zu Verlust und mangelndem Verantwortungsbewusstsein
und Widerstand sieht. Auch wenn ich mich dagegen wehre, einen Film auf eine
Botschaft zu reduzieren. Freiheiten habe ich mir vor allem bei den
weiblichen Charakteren genommen.
Im Roman werden die Frauen Opfer dieser patriarchalen Welt und ihrer
Gewalt. Ich wollte, dass sie in dieser Gemeinschaft von Feiglingen
kämpferisch und taff sind. Und vieles hat sich noch mal verändert, als ich
die Besetzung und die Drehorte hatte und wir anderthalb Monate vor Ort
zusammenlebten, probten und die Figuren entwickelten.
taz: Wie sah das konkret aus?
Tsangari: Es war ein langer, kollektiver Prozess. Ich komme vom Theater und
habe hier wie bei einer Bühneninszenierung gearbeitet. Auf diese Art
arbeite ich aber schon immer, bei „Attenberg“ und [3][„Chevalier“], sel…
bei der Miniserie „Trigonometry“ konnte ich ausgiebig proben.
Der Film entwickelte so ein Eigenleben. Jede Person wusste, was sie zu tun
hatte, und wir konnten leichter auf kurzfristige Komplikationen reagieren:
Budgetkürzungen ein paar Tage vor Drehbeginn oder auch auf plötzliche
Wetterwechsel, weil wir ja fast nur draußen drehten. Auf eine stille Weise
war es eine sehr effiziente Art zu arbeiten, wie eine Maschine inmitten der
Natur.
taz: „Maschine“ klingt in diesem Zusammenhang überraschend, weil sich der
Film so organisch und fast wie gelebte Erfahrung anfühlt. Vor allem Ihr
Hauptdarsteller Caleb Landry Jones wirkt darin schwer zu bändigen, wie ein
freies Radikal.
Tsangari: Er war völlig unkontrollierbar! Caleb hat nicht zweimal dasselbe
gemacht. Wir wussten zwar vorher, dass er sich mit jeder Zelle seines
Körpers dieser Methode verschreibt, trotzdem haben wir uns immer wieder in
die Haare gekriegt. Diese Kämpfe waren für uns beide sehr fruchtbar.
Richtig streiten kann man nur mit jemandem, der respektiert, was man tut.
taz: Gleich zu Beginn sehen wir Walt, wie er durch die Natur streift und
alles anfasst und schmeckt, an einer Baumrinde lutscht. Warum war es so
wichtig, einen taktilen Film zu machen?
Tsangari: Es war unmöglich, ihn nicht zu einem taktilen Film zu machen,
denn das ist der Kern der Geschichte. Die Verbundenheit zur Natur, die
gestört wird. Es war auch die erste Szene, die wir gedreht haben. Sie
entstand spontan bei den langen Spaziergängen mit Caleb, auf denen wir uns
gemeinsam vorbereiten. Ich zeigte ihm die Orte, die ich recherchiert hatte,
die Natur und Vegetation. Und er reagierte intuitiv darauf, begann alles
anzufassen, zu schmecken.
Da hatte ich die Idee, seine Figur im Film so einzuführen. Wir sind ihm
einen Tag lang einfach nur mit der Kamera gefolgt und haben festgehalten,
was er macht. Nachdem ich ihm das Drehbuch geschickt hatte und wir uns in
Los Angeles getroffen haben, war das Einzige, was er sagte: „Athena, bring
mich so früh wie möglich hin. Ich will den Dreck unter meinen Fingernägeln
haben.“
Er wollte tief eintauchen, in dem Dorf leben, das wir in den schottischen
Highlands für den Film aufbauten. Freundete sich gleich mit den Bauern der
Gegend an, half beim Schafehüten, schnitzte sein eigenes Essbesteck aus
Holz, machte sich eins mit dieser Landschaft.
taz: Wo in Schottland haben Sie gedreht?
Tsangari: Es war im westlichen Teil des Landes, Argyllhire, in der Nähe von
Oban. Ich wollte keine englische Landschaft wie im Roman, sondern etwas
Ursprünglicheres, Schrofferes. Man sollte nie genau wissen, ob es im 17.
Jahrhundert spielt oder die Dorfbewohner heutige Aussteiger sind.
Mit unserem Produktionsdesigner, dem Kostümbildner und dem Kameramann war
sofort klar, dass es kein historischer Film werden würde, sondern dass wir
es als eine moderne Welt betrachten würden. Es ist eine zeitlose Geschichte
ist, die immer wieder vorkommt, in Griechenland in Alabama oder anderswo.
taz: Seit der Premiere in Venedig vergangenen September scheint der Film
noch relevanter geworden zu sein, in der Art, wie Sie über eine Welt
sprechen, die vor unseren Augen verschwindet.
Tsangari: Wir haben den Film gemacht, weil er auch von unserer Gegenwart
handelt. Es geht nicht um England im Mittelalter. Es ist eine Geschichte,
die gerade jetzt überall passiert, in jeder einzelnen Ecke der Welt, und
ich werde jetzt nicht über die „Top-Hits“ sprechen, die wir alle kennen,
die gewaltsame Industrialisierung und Landnahme in Afrika oder die
Entwicklungen in Europa, Lateinamerika und den USA. Ich identifiziere mich
mit Quill, dem Kartografen.
Als Künstler*innen sind wir Teil des Systems und es ist eine Gefahr,
sich nicht durch passives Dulden schuldig zu machen, nicht der Anfang vom
Ende zu sein. Deswegen sind mir am Set horizontale Strukturen wichtig.
Ich besetze jede Person selbst, von den Darsteller*innen bis zu den
Technikleuten. Ich kenne sie alle persönlich, bevor wir überhaupt zu
arbeiten beginnen. Das ist für mich ein politischer Akt, mit Leuten
zusammenzuarbeiten, die dieselbe Vision von der Welt haben. Ich bin als
Anarchistin aufgewachsen. „Harvest“ ist ein Punk-Film. Ich fördere das
kreative Chaos und die Anarchie und fühle mich darin sehr zu Hause.
21 May 2025
## LINKS
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## AUTOREN
Thomas Abeltshauser
## TAGS
Kino
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Kolumne Lidokino
Schwerpunkt Berlinale
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