# taz.de -- Die Wahrheit: Was will Gott? | |
> Wenn Gott, das Universum oder andere Selbsthilfegruppen einen | |
> glücklicherweise nicht haben hängen lassen im Leben, wird es Zeit | |
> zurückzuschauen … | |
Als Kind verfolgten mich zwei Lieder. Beide wirkten grausam, auf ihre je | |
ganz eigene Weise. Das eine Lied war ein Schlaflied, das mir hin und wieder | |
vorgesungen wurde, nachdem ich gut fromm ein kleines Nachtgebet gen Himmel | |
geschickt hatte, in dem ich sämtliche mir näher und ferner bekannten | |
Menschen in Schutz und Liebe kleidete, dass es sich mit Weihwasser aber | |
gewaschen hatte. Und das, obwohl ich nur evangelisch war. Jedenfalls machte | |
mir das darauf ertönende Schlaflied ordentlich bange, denn eine Zeile darin | |
ging wie folgt: „Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt!“ | |
Ich glaube, ich konnte noch nicht mal drei Worte am Stück fehlerfrei sagen, | |
als ich schon beim Hören dieser Androhung im Kopf dachte: „Fuck, und wenn | |
morgen früh Gott nicht will? Was dann? Dann bin ich verratzt, mausetot oder | |
so ähnlich!“ Das oder Ähnliches muss ich als kleineres oder größeres Kind | |
befürchtet haben. Geteilt habe ich diese rührende Angst einst mit keiner | |
Menschenseele. Die Zeile war mir derart unheimlich, dass ich sie in mein | |
Nachtgebethirn einmauerte. | |
Bis heute und eben ist erstaunlicherweise auch bei mir alles ganz okay | |
verlaufen. Gott, Universum oder andere Selbsthilfegruppen haben mich nicht | |
hängen gelassen. Ich bin noch am Leben, auch morgens in der Früh. Mit | |
zunehmendem Alter stehe ich sogar freiwillig, ja freudig, nicht erst | |
zwischen 11 und 13 Uhr auf. | |
Das zweite auf mich grausam wirkende Lied, ist einst wie heute der | |
furchtbare Geburtstagsschmettersong: „Wie schön, dass du geboren bist, wir | |
hätten dich sonst sehr vermisst!“ Bullshit! Absoluter Bullshit! Man | |
vermisst niemanden für seine oder ihre seltsamen und komischen, ja | |
grenzwertigen Eigenschaften, wenn jene Person nicht in diese unsere | |
Weltmatrix hineinkatapultiert wurde. | |
## Grausliches Déjà-vu | |
„Wie schön, dass du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst!“ | |
Würg, kotz, aufhören! Sofort. Erklingt jenes Lied heute auf einer | |
Festivität, will ich, anlässlich meines grauslichen Déjà-vus und meiner | |
hochphilosophischen Gedanken dazu, sofort die Stopptaste meines in Ehren | |
gehaltenen einstigen Lieblingskassettenrekorders drücken. | |
„Wie schön, dass du da bist!“, just letzte Woche zuckte ich zusammen, als | |
ich in einer verspätet vor sich hin plätschernden Berliner S-Bahn eine | |
Abwandlung meines Hassgeburtstagsliedes zu meinen malträtierten Ohren | |
bekam. Im Waggon war alles negativ lautmalerisch aufgefahren, was ein | |
Berliner Abteil eben so zu bieten hat: vor sich hin bettelnde Gestalten, | |
vor sich hin stänkernde Altmänner, vor sich hin stinkende Riesentölen und | |
vor sich hin labernde mobile Wichtigtuer. Und ein eigentlich knuddelig | |
anzusehender Säugling lag da in einem Kinderwagen und brüllte, schrie und | |
sabberte die Bahn voll. Beschallt wurde er per Smartphone seiner | |
Begleiterin mit eben meiner abgewandelten Hassliedzeile: „Wie schön, dass | |
du da bist!“ | |
Es bleibt die Frage: Was aber will Gott mit alledem auf Erden? | |
20 May 2025 | |
## AUTOREN | |
Harriet Wolff | |
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