# taz.de -- Sprachenpolitik in der Ukraine: Ohren auf am Karpatenrand | |
> In Iwano-Frankiwsk schickt der Bürgermeister „Sprachinspektoren“ auf die | |
> Straße. Sie sollen prüfen, wie viel Russisch in der Stadt gesprochen | |
> wird. | |
Bild: Die Allee des Ruhmes für gefallene Helden im Zentrum von Iwano-Frankiwsk… | |
Iwano-Frankiwsk und Kyjiw taz | Auch drei Jahre nach Beginn des russischen | |
Angriffskrieges gegen die Ukraine schaffen es russische Propagandanarrative | |
in die internationale Öffentlichkeit – und sogar in höchste Kreise | |
US-amerikanischer Diplomatie. Eines davon ist die Behauptung, dass die | |
russische Sprache in der Ukraine unterdrückt würde und die Regionen mit | |
russischsprachiger Bevölkerungsmehrheit doch eigentlich zu Moskaus Reich | |
gehörten. | |
Der von US-Präsident Trump beauftragte Chefunterhändler sorgte kürzlich mit | |
einer Einlassung dazu für einen Aufschrei in der Ukraine: [1][Steve | |
Witkoff] sprach in einen Interview mit dem russlandfreundlichen | |
Ex-Fox-News-Moderator Tucker Carlson über die teilweise von russischen | |
Truppen besetzten Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson | |
sowie die seit 2014 annektierte Krim. „Sie sind russischsprachig, und bei | |
den Referenden 2022 brachte die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung zum | |
Ausdruck, dass sie unter russischer Herrschaft bleiben möchte“, so Witkoff. | |
In der Ukraine kam das nicht gut an. „Die Gleichsetzung ukrainischer | |
Russischsprecher mit Russen, die den Krieg unterstützen, und die Verwendung | |
der Sprache als Rechtfertigung für den Krieg gegen die Ukraine ist ein | |
häufiges Thema der russischen Propaganda“, schrieb der Kyiv Independent. | |
## Sprache als Kriegsvorwand | |
Witkoff hatte bei seinem Bezug auf die Fake-Referenden auch unterschlagen, | |
dass ein Großteil der Bewohner ohnehin nicht hätte teilnehmen können, weil | |
sie geflüchtet waren oder tot sind. Und dass der nördliche Teil der Region | |
Saporischschja mit der Bevölkerungsmehrheit unter ukrainischer Kontrolle | |
steht. Die Sprache sei nur ein Vorwand für Russlands Krieg, kommentierte | |
die Parlamentsabgeordnete Jewhenia Krawtschuk auf X. „Das wahre Ziel ist | |
die Zerstörung der ukrainischen Nation.“ | |
Nachdem im Zarenreich und in der Sowjetunion die ukrainische Sprache stark | |
reglementiert wurde, haben die Regierungen in Kyjiw in den vergangenen 20 | |
Jahren das Ukrainische mal mehr mal weniger stark gefördert. Seit 2022 | |
wechselten auch viele bis dahin russischsprachige Ukrainer zum | |
Ukrainischen. | |
## Politische Profilierung mit Sprachfragen | |
Doch auch in der Ukraine wollen sich manche Politiker mit der Sprachfrage | |
profilieren. So beklagte der Bürgermeister von Iwano-Frankiwsk, Ruslan | |
Martsinkiw, im Herbst, dass er auf den Straßen seiner Stadt zu häufig die | |
russische Sprache höre. Deshalb sollten künftig sogenannte | |
Sprachinspektoren unterwegs sein. Ein paar Wochen später zeigte das | |
öffentliche Fernsehen Suspilne einen Bericht, in dem ein Mann im | |
Rentenalter auf dem Marktplatz Flyer für Ukrainischkurse verteilte. | |
Iwano-Frankiwsk liegt im Westen der Ukraine im nördlichen Karpatenvorland. | |
Die Gegend wurde erst nach dem Hitler-Stalin-Pakt von der Sowjetunion | |
vereinnahmt. Die überwiegende Mehrheit der Einheimischen spricht Ukrainisch | |
als Muttersprache. | |
Martsinkiws Partei, die Allukrainische Vereinigung Swoboda (Freiheit) | |
vertritt einen ethnischen Nationalismus. Das Simon Wiesenthal Center hatte | |
vor mehr als zehn Jahren Führungskräfte der Partei in der Liste der | |
Top-Ten-Antisemiten genannt. Bei den Parlamentswahlen 2014 und 2019 verlor | |
die Partei überregional an Bedeutung und hat jetzt nur noch einen | |
Abgeordneten im ukrainischen Parlament. Martsinkiw allerdings wurde 2020 im | |
Amt bestätigt. | |
Wochen später sind die Inspektoren auch an mehreren Tagen hintereinander | |
weder auf dem Marktplatz noch in der Einkaufsstraße zu sehen. Die autofreie | |
Flaniermeile ist gesäumt von den Porträts gefallener Soldaten. Ohnehin | |
sollen sich nur 40 Inspektoren für das Ehrenamt gemeldet haben. Tatsächlich | |
gibt es dafür auch keine Rechtsgrundlage. Privat kann in der Ukraine jeder | |
mit jedem in der Sprache der Wahl sprechen – auch auf Russisch. [2][Das | |
Sprachgesetz regelt nur die Verwendung in Behörden, Schulen und | |
Unternehmen], Kunden müssen grundsätzlich zuerst auf Ukrainisch | |
angesprochen werden. | |
## Fast vier Millionen Binnenvertriebene im Land | |
Die 43-jährige Iryna regt Martsinkiws Idee auf. Sie stammt aus Luhansk, das | |
schon 2014 von russischen Spezialkräften besetzt wurde. Zunächst floh sie | |
nach Sewerodonezk, [3][2022 nach Iwano-Frankivsk]. Sie ist eine von fast | |
vier Millionen Binnenvertriebenen in der Ukraine. Die meisten von ihnen | |
kommen aus Regionen, in denen viel Russisch gesprochen wurde. „Das ist auch | |
meine Muttersprache“, sagt Iryna, die auch problemlos Ukrainisch spricht. | |
Doch nicht allen fällt das so leicht. | |
Das Leben fern der Heimat sei immer noch schwierig. Das Thema Sprache | |
bringe aber niemandem etwas außer Russland, ist sich Iryna sicher. | |
Sprachinspektoren lösten kein einziges Problem. „Viele Menschen aus der | |
Ostukraine haben ihr Zuhause und nahe Angehörige verloren. Und jetzt sollen | |
sie nicht in ihrer Muttersprache miteinander sprechen? Iryna schüttelt den | |
Kopf. | |
## Wohnen und Jobs als Hauptprobleme | |
Über die Lage der Geflüchteten in Iwano-Frankiwsk hat Witaliy Fedoriw von | |
der Stadtverwaltung einen Überblick. „[4][Wohnen und Arbeit sind die | |
Hauptprobleme]“, fasst er zusammen. Die Stadt ist schon vor Russlands | |
Invasion schnell gewachsen, Wohnraum ist knapp. „Wir haben 295.000 | |
Einwohner inklusive der Vororte. Dazu kommen rund 39.000 | |
Binnengeflüchtete“, erzählt Fedoriw. Seit 2022 steigen die Wohnungspreise. | |
Und die Stadt hat keine eigenen Wohngebäude. Dank einer Förderung werde | |
jetzt gebaut – aber das dauere natürlich. Einstweilen gibt es ein paar | |
Hundert Wohnheimplätze. Die hohen Preise sind für Arme, Alleinstehende und | |
Rentner am problematischsten. | |
Mit seinen Sprachinspektoren ist Iwano-Frankisk bisher allein. Andriy | |
Sadowiy, seit 2006 Bürgermeister der westukrainischen Metropole Lwiw, | |
regierte unterkühlt auf die Idee, wie das Portal 112.UA berichtete. „Lwiw | |
braucht keine Sprachinspektoren“, sagte er. Die Menschen sprächen dort gern | |
Ukrainisch. | |
Russische Medien hingegen griffen die Geschichte gerne auf, um damit das | |
beliebte Narrativ von der Unterdrückung russischsprachiger Menschen in der | |
Ukraine zu belegen. Die sind aus Kremlperspektive nämlich automatisch | |
Russen und müssen beschützt werden – im Zweifel, in dem man ihre Städte in | |
Ruinenlandschaften verwandelt. | |
Witaly Fedoriw sagt, Jobs seien für Binnenflüchtlingen ein größeres | |
Problem. Russisch sprechen sei mehr ein emotionales Thema. „Russisch ist | |
die Sprache des Aggressors“, zitiert er den Bürgermeister. Warum die Stadt | |
dann als einzige Sprachinspektoren habe? Fedoriw zieht eine Augenbraue hoch | |
„Wir haben einen kreativen Bürgermeister.“ | |
10 Apr 2025 | |
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## AUTOREN | |
Marco Zschieck | |
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