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# taz.de -- Berliner Eckkneipen: Auf ein Bier
> Hier kann man rund um die Uhr trinken, es ist ein Treffpunkt im Kiez –
> und ein von Gentrifizierung bedrohter Ort: Besuch in einer Berliner
> Eckkneipe.
Bild: Traditionsbetrieb: Zur Quelle im Berliner Ortsteil Moabit
Berlin taz | Es gibt wenige Orte in Berlin, die vermeintlich so wenig vom
Wandel der Zeit betroffen sind, wie das Innenleben einer Eckkneipe. Dazu
gehört: Molle und Korn, Tag und Nacht geöffnet, Rauchen erlaubt, uriges
Interieur.
Fortschreitende Gentrifizierungsprozesse und Lärmbeschwerden machen es der
Eckkneipe aber nicht einfach. [1][Stichwort Kneipensterben]. Gleichzeitig
sorgen soziale Medien dafür, dass wir für leichte, unverbindliche
Unterhaltung und sozialen Kontakt nicht mal mehr das Haus verlassen müssen.
Was also ist noch übrig vom Mythos der Alt-Berliner Eckkneipe? Auf „Zur
Quelle“ in Moabit, gibt es doch kaum einen besseren Ort, um diese Fragen zu
beantworten. Wo Stromstraße und Alt-Moabit aufeinandertreffen, nicht weit
vom U-Bahnhof Turmstraße, findet sich die Eckkneipe, die 24 Stunden und
sieben Tage die Woche geöffnet hat.
Beim Reinkommen begrüßen mich die Wirtin und die dunkle Holzvertäfelung.
Die Theke zieht sich einmal quer durch den Schankraum. Über ein paar Stufen
gelangt man rechts an der Theke vorbei in den Raucherraum. Ich setze mich
an die Theke und bestelle eine Cola. Es ist kurz nach 15 Uhr, außer mir und
der Wirtin sind nur vier weitere Gäste da.
Gerade läuft in der digitalen Jukebox „Born in the USA“ von Bruce
Springsteen. Der Mann neben mir, der sich als Stammgast vorstellt, grölt
alternativtextsicher mit: „Bohr’n in der Naaaseee!“ Für 20 Cent pro Song
darf hier jede*r mal DJ sein.
## Orte der Gemeinschaft
Ein Berliner Kneipenspruch aus der Zeit um 1905 lautet: „Tu den Mund nicht
unnütz auf, red vernünftig oder sauf.“ So richtig treffend ist er aber
nicht, geht es in der Kneipe doch nicht nur um das kollektive Besäufnis.
Kneipen waren und sind schon immer Orte der Gemeinschaft.
Die Eckkneipenkultur ist seit ihrer Entstehung Mitte des 19. Jahrhunderts
untrennbar mit der Entstehung einer städtischen Arbeiter*innenschaft
verbunden. Wohnraum und Schlafplätze fehlten, sodass die Kneipe ums Eck für
viele zum Ersatzwohnzimmer wurde. Dass die Quelle in Moabit rund um die Uhr
geöffnet hat, ist eben noch ein Überbleibsel aus dieser Zeit. So konnten
die Arbeiter*innen nach ihrem Schichtdienst zu jeder Uhrzeit in die
Kneipe auf ein Feierabendbier gehen. Aber auch heute stellt die Eckkneipe
so eine immer präsente Konstante im Kiez dar.
Das Gemeinschaftsgefühl in Eckkneipen zeigt sich in kleinen Momenten:
Stammgäste übernehmen Freundschaftsdienste füreinander und es fällt auf,
wenn jemand mal eine Woche nicht auftaucht. Die Quelle hat sich
mittlerweile gefüllt. Einer der Stammgäste wohnt direkt über der Kneipe,
eine Handvoll zeigt die Straße runter, als sie nach ihrem Wohnort gefragt
wird, der Rest wohnt im Kiez verteilt. Über die Jahre sind es weniger
geworden, und es sind vor allem ältere, weiße Männer. Dieses homogene
Stammpublikum stellt eine ganz eigene demografische Gruppe dar.
Mittlerweile läuft der Partyschlager „Das rote Pferd“. Musiktechnisch ist
das Ganze so gemischt, wie das Publikum an einem durchschnittlichen Abend:
Studierende treffen auf ein paar Urgesteine, daneben amüsieren sich
Tourist*innen an der Dartscheibe. Eine Kollegin der Wirtin spricht von
einer „Wundertüte“. Erst vor Kurzem habe es oben im Raucherraum einen
Heiratsantrag gegeben. Die beiden haben sich hier kennengelernt und die
Kumpel haben den Raucherraum mit Herzluftballons dekoriert, erzählt sie.
## Servicekraft und Streetworker
Die Wirtin arbeitet schon seit über 40 Jahren in der Quelle. Sie und ein
Teil der Stammgäste kennen sich bereits seitdem. Wen Wirt*innen mit
Vornamen kennen und bei wem sie wissen, was er*sie trinken möchte, gilt
als Stammgast. Die Wirt*innen sind für die Funktion der Kneipe als
Kieztreffpunkt essenziell. Sie sind nicht nur Servicekräfte, sondern auch
eine Art Streetworker.
Laut dem Soziologen Ray Oldenburg gibt es neben Wohnung und Arbeitsplatz
noch einen weiteren elementaren sozialen Raum, der identitätsstiftend ist.
Der „Dritte Ort“ steht grundsätzlich allen Menschen einer Gesellschaft
offen. Es ist nicht zwangsläufig ein Ort, wo man Freund*innenschaften
schließt, aber eben eher als in der S-Bahn, in der man mit Kopfhörern
nebeneinander sitzt. Die Berliner Eckkneipe kann man als so einen „Dritten
Ort“ verstehen. Lange Zeit galt sie als Ort ohne soziale Beschränkung. Zwar
gibt es soziale Rituale und Regeln, jedoch zeichnet sich der Besuch vor
allem durch Zwanglosigkeit aus.
Das grüne Jever-Schild über der Theke der Quelle flackert leicht. Manchmal
herrscht kurz Ruhe, wenn die Jukebox auf neue Musikwünsche wartet und nur
ein Grundrauschen von der Straße zu hören ist. Ich bemerke, wie die
Stammgäste am anderen Ende des Schankraums mich mustern. Ein gewisser
Argwohn liegt in der Luft. Wie bei zwei Hunden, die sich erst noch
beschnuppern müssen. Vielleicht ein Zeichen des sozialen Wandels?
Die Entwicklung der vergangenen 30 Jahre ist von einer Ausdifferenzierung
sowohl von Kneipengänger*innen in unterschiedliche Zielgruppen als
auch des Schank- und Gastronomieangebots gekennzeichnet. Die Trennung von
Eck- und Szenekneipe ist längst nicht mehr so deutlich. „Kneipenbesucher
von heute sind eher Szenelokalbesucher. Anders als früher gehen sie nicht
in jeder Stimmung in ihre Kneipe im Wohnviertel, sondern suchen sich die
Lokalität aus, die zu ihrem Gefühl passt“, sagt Trendforscher Peter
Wippermann. Wenn man unter Kneipe auch Orte wie Shishacafés, Schwulenbars
oder türkische Teestuben fasse, werde deutlich, „wie sehr das Prinzip
dieses Subgruppenorts Berlin inzwischen prägt“.
## Die Codes der Eckkneipe
Die Berliner Eckkneipe hat gewisse Codes, die sich im Stammpublikum
widerspiegeln: weiß, männlich, älter als 50, deutsch. Ich falle mit Anfang
20 offensichtlich zumindest teilweise aus diesem Code heraus. Kann ich als
junger Mensch überhaupt Teil dieses Mikrokosmos werden oder bleibe ich
Fremdkörper? Schafft die Eckkneipe diesen Schichtwechsel?
Hinter mir füllt sich ein neuer Tisch. Drei Männer stoßen an: „Auf die
Wirklichkeit des Lebens!“ Eines scheint sich über Generationen hinweg nicht
geändert zu haben: Zu 90 Prozent werde Bier getrunken und zu 10 Prozent
andere Getränke, schätzt die Wirtin. Ein Großteil davon, na klar,
Schultheiss Pils. Lag doch noch bis 1980 gegenüber der Quelle ein großes
Auslieferungslager der Schultheiss-Brauerei. Aber auch sonst gehört das
Schultheiss für viele genauso zur Berliner Eckkneipe wie die urige
Einrichtung. Für die, die sich mit Bier nicht anfreunden können, empfiehlt
mir die Wirtin den Nimm2-Shot: Eine hausgemachte Spezialität aus Korn,
Multivitaminsaft und Nimm2-Bonbons.
Auf dem Weg zur Toilette, die mit ihren silbernen Trennwänden, dem
metallenen Papierspender und einer Vielzahl an Graffitis an ein
ausrangiertes Raumschiff erinnert, nicke ich dem Mann an der Jukebox zu.
Mittlerweile läuft „Danza Kuduro“ und ich bin mir nicht mehr sicher, ob wir
uns im Jahr 2015 oder 2025 befinden. Ebenso wenig neu wie der sommerlich
tanzwütige Song ist auch das Kneipensterben. Kam im Jahr 1900 auf 153
Berliner*innen noch eine Kneipe, sind es 2022 – neuere Zahlen gibt es
nicht – ganze 3.380 Berliner*innen pro Schankwirtschaft. Insgesamt gab
es 2022 nur noch 1.111 Schankwirtschaften in Berlin. 1994 waren es noch
mehr als 4.000.
Zwischen den verschiedenen Arten von Schankwirtschaften wird nicht
unterschieden. Ein Trend wird aber dennoch deutlich: Laut dem Deutschen
Hotel- und Gaststättenverband sind die Hauptgründe für Kneipensterben
Gentrifizierung, Lärmbeschwerden und gestiegene Kosten. Vor allem die
finanziellen Herausforderungen, die durch steigende Preise und höhere
Lebenshaltungskosten entstehen, haben Einfluss auf das Besuchsverhalten.
Manche Gäste würden nicht mehr so häufig kommen wie früher, weil sie es
sich nicht leisten können, erklärt mir die Wirtin.
## Mythos der Eckkneipe am Leben halten
Am Tresen merke ich davon recht wenig. Neben mir bestellt ein Gast gerade
zum zweiten Mal Kurze für sich und seine zwei Tischnachbarn. „Kneipenzeit
ist vorbei“, kommentiert ein Gast, als er hört, dass ich mich mit
Eckkneipen beschäftige. Der Argwohn scheint verflogen, das Interesse
überwiegt. [2][Ich und zwei der Stammgäste an der Theke kommen ins
Gespräch]. Wir sprechen über slowenisches Gemüse, Journalismus und Erich
Kästner. Ein Stammgast überschüttet mich mit Erzählungen aus seiner
Kindheit in Neustrelitz in Mecklenburg-Vorpommern. Heute sei vieles nicht
mehr so gut wie damals, auch die Flüchtlinge machen es nicht besser, möchte
er mir energisch erklären. Auch das ist eben Eckkneipe.
Der gesellschaftliche Wandel scheint auch hier nicht unbeschadet
vorbeizuziehen. Ganz so, als sei die Eckkneipe plötzlich selbst eine
Szenekneipe – die es aber nicht wahrhaben möchte. Wie wohl ihre Zukunft
aussieht? Entscheidend dürfte sein, ob der Nachwuchs sich in seinen
Kiezkneipen einnistet und den Mythos der Eckkneipe am Leben halten kann:
bezahlbarer, gemeinsamer Treffpunkt im Kiez zu sein.
Mittlerweile ist es kurz vor acht Uhr abends. Die Quelle beginnt sich zu
füllen. Einer der Stammgäste neben mir klopft auf die Theke mit den Worten
„Ich geh jetzt in die Koje!“ und geht. Aus der Jukebox dröhnt ein
Aretha-Franklin-Cover von Adeles „Rolling in the deep“. Auch ich verlasse
die Quelle mit einem Wink Richtung Theke und meinem neu gewonnenen Platz im
Kiez. Mit der Quelle habe ich, dem Mythos getreu, zumindest meine
Stammkneipe im Kiez gefunden. Einen Monat später weiß die Wirtin dann auch,
wie ich heiße und was ich trinke.
7 Apr 2025
## LINKS
[1] /Gaststaettensterben-auf-dem-Land/!6033035
[2] /Demokratisches-Potenzial-der-Stammkneipe/!6066700
## AUTOREN
Felix Baum
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