# taz.de -- Genossenschaftlich organisierte Kneipe: Wo man sich trifft | |
> Dass die Kneipe im Dorf zu schließen drohte, schreckte die Einwohner in | |
> Merzbach auf. Jetzt geht es rund um den Zapfhahn gut genossenschaftlich | |
> zu. | |
Bild: Genossenschaftliches Treiben in der Dorfschänke Merzbach | |
Merzbach taz | Merzbach, ein rheinisches Dorf in der Voreifel an einem | |
Freitagabend im November. Es ist stockdunkel und feuchtkalt. Die Rollläden | |
der Einfamilienhäuser sind längst runtergelassen, nur wenige erleuchtete | |
Fenster erlauben den Blick ins Innere. Auf der Straße ist keine | |
Menschenseele zu sehen. | |
Umso überraschender ist die Geräuschkulisse, die einem beim Betreten der | |
„Dorfschänke Alt-Merzbach“ entgegenschlägt. Der Gastraum erstreckt sich a… | |
drei Ebenen – trotz der frühen Stunde sind so gut wie alle Tische voll | |
besetzt. Hinter der Theke drängen sich gleich drei Leute um den Zapfhahn, | |
die Küchentür schwingt auf, ein Mann kommt mit dampfenden Tellern heraus. | |
Grünkohlessen ist heute angesagt. | |
Es braucht nicht lange, um zu begreifen, dass das hier keine normale Kneipe | |
ist. Der Kellner, Gerd Wolters, scheint jeden Gast zu kennen, auch zapft er | |
sich mal selbst ein Bier und gesellt sich dazu. Der Grund: Die Kneipe wird | |
von einer Genossenschaft betrieben. Die Genoss:innen, die hier im Wechsel | |
hinter der Theke und in der Küche stehen, arbeiten ehrenamtlich. | |
„Der ausschlaggebende Grund für unsere Initiative war, dass der vorherige | |
Pächter schließen musste“, sagt Gerd Wolters. Damit drohte ein wichtiger | |
sozialer Treffpunkt wegzufallen, neben einem Restaurant gab es nur noch | |
eine Bäckerei im Dorf – die ebenfalls kurz vor der Schließung war. „Also | |
dieses typische ‚Ich geh mal rüber und guck, wer da sitzt und unterhalte | |
mich ein bisschen‘ – dafür war das hier der letzte Ort“, erinnert sich | |
Wolters. | |
Im Sommer 2023 hätten er und seine Freunde sich also gezwungenermaßen im | |
Freien treffen müssen. Bei einem Bier haben sie überlegt, wie sie die | |
Dorfkneipe retten könnten – die Eigentümer der Gasträume dachten schon üb… | |
die Umwandlung in Wohnraum nach. „Da kam die Idee mit der Genossenschaft | |
auf“, sagt Wolters. Als Vorbild habe eine [1][Genossenschaft aus Herchen] | |
gedient, einem Dorf im Rhein-Sieg-Kreis. „Die Stadt hatte das Fachwerkhaus | |
mit der Kneipe gekauft und zur Verfügung gestellt. Auch den Saal, damit der | |
Gesangsverein da weiterhin proben kann“, berichtet Wolters. „Wir waren | |
begeistert von der Atmosphäre dort und wie schön das funktionierte.“ Eine | |
Exkursion zu einem weiteren Genossenschaftsbetrieb im Oberbergischen gab | |
den letzten Impuls zur Entscheidung. | |
Bis zur Gründung mussten jedoch erst noch eine Satzung und ein Businessplan | |
her. Auch hier standen die beiden Genossenschaftskneipen mit Rat und Tat | |
zur Seite. | |
Im Spätsommer 2023 war es dann so weit. Jede:r der 23 Gründungsmitglieder | |
erwarb mindestens einen Anteil von 100 Euro, knapp 8.000 Euro Startkapital | |
kamen zusammen. Ein Aufsichtsrat wurde gebildet, Gerd Wolters ist nun einer | |
der vier Vorstände. | |
Das Besondere an der Genossenschaft sei, dass man durch den Kauf eines | |
Anteils Teil einer gemeinsamen Sache werde, meint Wolters. Und beteiligen | |
wollten sich viele: Nach einem Wochenende der offenen Tür trudelten etliche | |
Mitgliedsanträge ein. „Nach drei Wochen waren wir schon über 100,“ | |
berichtet Wolters nicht ohne Stolz. Seit der Eröffnung vor rund einem Jahr | |
macht die Kneipe drei Mal die Woche auf, mitunter gibt es kleine Konzerte, | |
Lesungen oder Singabende. Dazu kommen Mitmachangebote wie etwa eine | |
Schach-, Bingo-, Spiel- und Handarbeitsgruppe. Auch Feste wie Karneval und | |
Silvester werden hier gefeiert. Ein Highlight sei kürzlich das Hubertusfest | |
gewesen, erzählt Wolters. Dazu gab es Wildschwein am Spieß und Jäger, die | |
auf dem Horn spielten. „Das machen wir nächstes Jahr wieder.“ | |
Inzwischen ist die Mitgliederzahl auf rund 200 gewachsen, circa 60 davon | |
arbeiten ehrenamtlich in der Dorfschänke mit. Auch Leute von außerhalb | |
haben sich angeschlossen. So wie Hobbykoch Dieter Bückmann, der heute in | |
der Küche steht. „Wir sind aus der Stadt mit dem Dart-Verein gekommen und | |
haben hier eine neue Heimat und gute Freunde gefunden“, sagt Bückmann. | |
Von neuen Bekanntschaften berichten alle Genoss:innen an diesem Abend. | |
„Ich habe hier in acht Monaten mehr Leute kennen gelernt als in den fast | |
zwanzig Jahren davor“, erzählt Oliver Schnell. „Ich war alleinerziehender | |
Vater, voll berufstätig, hab in Köln gearbeitet. Das hieß früh weg und spät | |
wieder zu Hause. Vom Dorf kannte ich nur die beiden Spielplätze.“ Die Frau | |
neben ihm, Uschi Felicetti, hat er hier auch kennengelernt. Sie wohnen | |
nicht mehr als 600 Meter auseinander, begegnet sind sie sich aber nie. „Und | |
jetzt sind wir ein Paar“, sagt Felicetti und strahlt über das ganze | |
Gesicht. „An dem Tag, als du deinen Antrag abgegeben hast, hatte ich | |
Dienst. Wir haben uns angeguckt … das hat dann nicht lange gedauert, ne?“ | |
Verliebt lächeln die beiden sich an. Ohne diesen Ort wäre ihr das nicht | |
passiert, da ist sich Felicetti sicher: „Ich war auch gar nicht auf der | |
Suche. Mein Mann ist vor zwei Jahren gestorben. Mir ging es lange sehr | |
schlecht.“ | |
Über die Erfahrung mit Tod und Trauer konnte Uschi Felicetti am Stammtisch | |
der „Sürsche Frauen“ (Anm. d. Red.: Sürsch nennt sich diese Gegend auf | |
rheinischem Platt) sprechen, der sich hier einmal im Monat trifft. | |
Felicetti ist nicht die einzige Witwe dort. „Wir haben kein Programm“, sagt | |
sie. „Wir reden einfach und haben es zusammen lustig.“ Ähnliches erzählt | |
Ute Bois vom Handarbeitskränzchen, das Nähen und Häkeln sei zweitrangig, | |
ja, es gebe sogar Leute, die kämen nur zum Quatschen dazu. Auch komme mal | |
jemand mit einem kaputten Kleidungsstück zum Flicken vorbei, berichtet | |
Bois, und auch Rat könne man sich hier holen. „Manchmal ist es ganz | |
unerwartet, dass jemand eine passende Erfahrung hat, die man dann mitnehmen | |
kann.“ Auch Henriette Seutter von Loetzen kommt zum Reden her. „Zu Hause | |
den ganzen Tag auf dem Sofa zu sitzen, das ist nichts für mich“, sagt die | |
fast 78-jährige Hauptaktive. Ihr Mann sei sehr krank, erzählt sie, der | |
letzte Sommer sei schwer für sie gewesen. „Ich brauche den Außenkontakt.“ | |
„Miteinander – füreinander“, das ist das Motto der Kneipe. Jede:r sei | |
willkommen, wird allseits beteuert. Soziale Blasen? Gibt’s hier nicht. | |
Meinungsdifferenzen? Kein Thema, Politik interessiere hier kaum. Die | |
Diversität der Leute bekomme man an den Vinylabenden buchstäblich zu hören, | |
berichtet Lorenz Fischer. An denen dürfe jede:r seine Musik mitbringen. | |
„Von Roland Kaiser bis Sex Pistols war da alles mit dabei.“ Dass man trotz | |
aller Verschiedenheit sitzen bleibe und sich die Musik der anderen anhöre, | |
habe ihm sehr imponiert, sagt Fischer. Eine Freundin aus der Tischrunde, | |
Judith Kleinschmidt, pflichtet ihm bei: „Es ist anders hier.“ Im Gegensatz | |
zu „normalen“ Kneipen würde sie sich hier als Frau auch allein hintrauen. | |
„Wahrscheinlich, weil hier so viele Frauen arbeiten. Die Kellner sind | |
außerdem alle so offen und verwickeln einen sofort ins Gespräch.“ | |
Manchmal greifen die Kellner auch in das Kneipengeschehen ein. „Kann sie | |
sich zu euch setzen?“, fragt Gerd Wolters das Ehepaar Bois und deutet zu | |
einer Genossin, die einsam vor ihrem Grünkohl sitzt. „Na klar!“, antwortet | |
das Paar sofort – obwohl die beiden eigentlich gerade gehen wollten. Davon | |
ist jetzt keine Rede mehr, ja, am Ende des Abends werden sie hier immer | |
noch zu dritt zusammen sitzen. Dieter Bois: „Wir sind im Ruhestand, wir | |
haben doch Zeit.“ | |
Und die braucht es auch: Eine Genossenschaft bedeute viel Arbeit, sagt Gerd | |
Wolters. Besonders jetzt, wo sie in der heißen Antragsphase seien. Das | |
Kneipenprojekt hat sich um eine Förderung des Landes NRW beworben, „Dritte | |
Orte“ heißt das Programm. Die erste Hürde ist geschafft, mit 50.000 Euro | |
haben die Genoss:innen nun die Möglichkeit, ein Konzept für einen | |
Kulturort zu entwickeln. „Der Plan ist, den Saal auszubauen“, erzählt | |
Wolters. Wie in vielen historischen Gasthäusern gehört zu der Kneipe auch | |
ein Festsaal. „Dort hätten wir nicht nur die Möglichkeit, größere | |
Veranstaltungen zu machen, sondern könnten auch barrierefreie Toiletten | |
einbauen.“ Dank des Preisgelds habe man nun einen Ingenieur mit der Planung | |
beauftragen können, auch gebe es eine Kooperation mit dem | |
Architekturstudiengang der [2][Alanus-Hochschule], um Nutzungsideen zu | |
entwickeln. „Aber auch die Genossen kommen mit Ideen“, sagt Wolters. Hat | |
die Initiative mit ihrem Konzept Erfolg, gibt es 450.000 Euro für die | |
Umsetzung. | |
Aber egal, ob die Mittel nun kommen oder nicht – auf die Kneipe muss in | |
diesem Dorf keine:r mehr verzichten. | |
3 Dec 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.siegtalerhof.de/ | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Alanus_Hochschule_f%C3%BCr_Kunst_und_Gesellsc… | |
## AUTOREN | |
Karlotta Ehrenberg | |
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