# taz.de -- Kieler Filmgruppe Chaos: Filmen ohne Rücksicht | |
> Die Kieler Filmgruppe Chaos lebt seit 1975 ästhetische Autonomie. Dafür | |
> trennt sie zwischen Kunst und Erwerbsarbeit und arbeitet unverdrossen | |
> analog. | |
Bild: Ex-Terrorist Lutz Taufer spricht seinen Werdegang, immer wieder bildlich … | |
Draußen brummt die Stadt. In einem Hinterhof zu ebener Erde ein | |
Arbeitsraum, ein verwinkeltes Archiv, eine Dunkelkammer und eine Küche. | |
Neben uns eine 16-Millimeter-Kamera auf einem Stativ, schwarz, eisern und | |
durchaus alt: „Ich bin 1973 geboren, die ‚Filmgruppe Chaos‘ gibt es seit | |
1975, ich kam Anfang der Nullerjahre hinzu“, stellt sich Rouven Stübe vor. | |
Geheimnisumwittert sei die Gruppe gewesen, regelrecht mysteriös. Dazu ihre | |
Filme zu den Kieler Hausbesetzungen und der Anti-AKW-Bewegung. Er | |
beobachtet sie aus der Ferne. Doch eines Tages fasst er sich ein Herz, | |
schaut bei Karsten Weber vorbei. „Karsten hat mir alles erklärt, wir haben | |
gequatscht bis morgens um drei, dann sind wir uns in die Arme gefallen“, | |
erzählt er. „Da war endlich einer, der nicht nur Bilder machte, sondern der | |
auch über Bilder sprach. Und die analoge Welt leuchtete.“ | |
„Vati hat gefilmt, wie der Weihnachtsbaum aufgestellt wird und Oma zu | |
Besuch kommt“, erzählt nun Weber, Jahrgang 1960, von seinen Anfängen. Super | |
8 ist in den 1970ern das Medium der Stunde. Das Familienleben soll | |
festgehalten werden. Bei der Scheidung übernehmen die Kinder Vatis Kamera. | |
Klamauk, Parodien hätten sie anfangs gefilmt, erzählt Weber. Das Material | |
ist billig, drei Minuten eine Filmrolle, die entwickelt per Post nach Hause | |
kommt. Aber man kann ja auch selbst entwickeln, das Material bearbeiten, | |
kommt auf Ideen: „Das war wunderschön, dass man als Jugendlicher alles in | |
der Hand hatte“, sagt er. | |
Und irgendwann will man halt zeigen, was man so gefilmt und geschnitten | |
hat, und auch, was Gleichgesinnte produzieren: Eine Filmgruppe aus Köln | |
etwa lässt ihr Filmmaterial von Mikroben und Pilzen bearbeiten. „Das hat | |
uns den Kopf durchgespült“, strahlt Weber. | |
Ein Jahr lang betreibt die Chaos-Gruppe in Kiel ein Super-8-Kino, zeigt | |
wildes Zeug in wilder Mischung, einmal folgen auf drei Minuten | |
dokumentierte Straßenschlacht beim Reagan-Besuch in Berlin drei Minuten | |
„Stan Laurel & Oliver Hardy“-Slapstick und dann 180 Sekunden Billigporno. | |
Danach richten sich wattstarke Strahler aufs Publikum, damit es gefilmt | |
werden kann. | |
Ja, solche Sachen macht die Chaos-Gruppe damals. Bald sitzt sie zwischen | |
allen Stühlen. Auch der Wechsel auf 16-Millimeter kann ihrer Radikalität | |
nichts anhaben. Was sie bewahrt: Sie verhindern konsequent, dass ihre | |
Filmleidenschaft in einen Beruf mündet. | |
Denn mit der Filmindustrie, auch der alternativen, will keiner ihrer | |
Angehörigen etwas zu tun haben. Sie suchen sich bewusst sogenannte normale | |
Jobs. „Ich bin gern dahin gegangen, wo es fies und schmutzig ist; habe am | |
Fließband gearbeitet, war auf Montage oder drüben auf der HDW-Werft“, sagt | |
Weber. Er filmt nebenbei. „Miete zahlen, Kinder großziehen, das muss ich | |
anders schaffen. Autonomie ist eine Bedingung, um radikal sein zu können“, | |
erklärt Stübe. Etwas filmisch erzählen, wie man es erzählen will, ist die | |
Aufgabe, nicht so, dass es zum NDR passt. | |
Die Gruppe löst sich zwischendurch fast auf. Es gibt Krach, der heftig | |
ausgefallen sein muss. Manche gehen einfach so. Um doch, wenn ein nächstes | |
Projekt realisiert wird, wieder da zu sein und zu unterstützen. | |
War die Chaos-Gruppe erfolgreich? Jedenfalls war sie in China unterwegs und | |
hat ihre eigensinnigen Kurzfilme auf Dorfplätzen ebenso gezeigt wie in | |
Hörsälen vor Hunderten von zum Schauen verpflichteten Studierenden. Das | |
Kollektiv hat seine Arbeiten auf einem Festival in Sibirien präsentiert und | |
auf einer Kurzfilm-Tournee durch Italien. | |
Klar, Tiktok, Youtube, die Kamera im Handy: „Wenn ich heute Jugendlichen | |
einen alten Film zeige, kriegen die die Krise, weil der so langsam | |
geschnitten ist“, sagt Stübe. „Wir werden die Entwicklung nicht aufhalten.… | |
Die digitale Welt betreten die Chaos-Filmer nur, um ihre Schätze zu zeigen. | |
So [1][gibt es manches auf der Filmplattform Vimeo]: „Film – Entwicklung – | |
Bearbeitung – in der Chaos Küche“ etwa, ein anrührender Zwölfminüter, wo | |
die beiden in ehrlicher Schlichtheit zeigen, wie aus einer Filmrolle ein | |
Film werden kann. | |
Nebenan, im kleinen Raum, haben sie entsprechend auch das Filmmaterial für | |
ihre neueste Produktion eigenhändig entwickelt. „Jeder ist verantwortlich“, | |
ein Dokumentarfilm über Lutz Taufer, einstiges Mitglied der [2][Rote Armee | |
Fraktion]. Rau, grobkörnig und in Schwarz-Weiß. Auch die Erzählweise ist | |
anders als der übliche Feature-Mus: Taufer spricht seinen Werdegang, immer | |
wieder bildlich überlagert von abgefilmtem Material aus der [3][68er-Ära]; | |
Film im Film als Film, auch darum geht es. | |
Das einzige Mal an diesem Abend wird Weber ein wenig mürrisch: Er hatte den | |
Film für die Experimental-Sektion der [4][Berlinale] eingereicht, aber dort | |
wurde er abgelehnt, weil: zu konventionell. Er schnaubt durch die Nase. Zu | |
konventionell! Dolles Ding. Will jemand was trinken? | |
17 Apr 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://vimeo.com/user18114569 | |
[2] /Rote-Armee-Fraktion-/-RAF/!t5012171 | |
[3] /Schwerpunkt-1968/!t5493520 | |
[4] /Schwerpunkt-Berlinale/!t5276068 | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
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