# taz.de -- Eskalation auf dem Balkan: Abrissbirne der Friedensordnung | |
> Serbiens Präsident Vučić mischt sich weiter in die Politik der anderen | |
> Balkanstaaten ein. Die Samthandschuh-Strategie des Westens ist der | |
> falsche Weg. | |
Bild: Aleksandar Vučić und Milorad Dodik in Mitrovica, Serbien | |
Aleksandar Vučić ist ein politisches Chamäleon. Immer wieder zeigt der | |
serbische Präsident seine strategische Wandlungsfähigkeit: Mal trifft er | |
sich mit Chinas Politspitze und bekundet den Willen zur forcierten | |
Partnerschaft, dann demonstriert er seine Nähe zum Kreml und Wladimir | |
Putin. Ende des Jahres machte er auf Einladung von Noch-Bundeskanzler Olaf | |
Scholz einen Abstecher nach Sachsen – wo sich die beiden über den in | |
Serbien geplanten Abbau von Lithium für die EU und Deutschland | |
austauschten. Vučić ein Mann der Nachhaltigkeit? | |
Das Gegenteil ist der Fall: Der Serbe agiert seit Jahrzehnten wie eine | |
Abrissbirne der geltenden Friedensordnung. Der nationalistische Hardliner | |
reüssiert mit einer Neuauflage der großserbischen Ideologie des einstigen | |
serbischen Machthabers Slobodan Milošević. Damit stellt er eine Gefahr für | |
die multiethnischen Nachbarstaaten dar. Kein Wunder, dass | |
Nato-Generalsekretär Mark Rutte vor wenigen Wochen erklärte, die Lage auf | |
dem Westbalkan gebe Anlass zur Sorge. | |
Vor wenigen Tagen besuchte Vučić den serbisch dominierten Landesteil | |
Bosnien und Herzegowinas, die Republika Srpska (RS). Damit stärkte er dem | |
Präsidenten der RS, Milorad Dodik, demonstrativ den Rücken. Dodik war zuvor | |
von einem [1][bosnischen Gericht zu einem Jahr Haft verurteilt] worden, da | |
er Urteile des bosnischen Verfassungsgerichts und Dekrete des von der UN | |
entsandten Hohen Repräsentanten in der RS nicht umsetzen wollte. | |
Der Besuch Vučićs war mehr als nur ein symbolischer Akt – seine | |
Einmischungspolitik hat Methode. Neben Bosnien steht auch das fragile | |
Kosovo im Fokus der Belgrader Politik. Hier wurde im [2][Herbst 2023 in dem | |
Ort Banjska ein Terroranschlag] verübt: Eine serbisch-paramilitärische | |
Einheit setzte schwer bewaffnet alles daran, Chaos zu stiften. Dabei wurde | |
ein kosovarischer Polizist getötet. Die Landesführung und internationale | |
Beobachter werteten diesen Angriff anschließend als Versuch Belgrads, | |
Kosovo in seinen Grundfesten zu erschüttern. | |
## Angriff auf den Friedensvertrag von Dayton | |
Das Prinzip ist immer dasselbe und erinnert an das russische Vorgehen | |
gegenüber der Ukraine: Die serbischen Bevölkerungsgruppen in den | |
Nachbarländern werden gezielt aufgestachelt, um Unfrieden zu sähen. Um das | |
Nachbarland Bosnien zu erschüttern, nutzt Serbien jedoch vor allem die | |
Unzulänglichkeiten des 1995 ausgehandelten Friedensvertrags von Dayton. | |
Wichtigster Sparringpartner für Vučić ist dabei Milorad Dodik, der seit | |
Jahren die gesamtstaatlichen Institutionen attackiert und die Loslösung der | |
Republika Srpska aus dem bosnischen Staat propagiert – die zweifelsfrei | |
neue kriegerische Auseinandersetzungen bedeuten würde. | |
Diese Woche ging Dodik noch einen Schritt weiter und kündigte an, dass | |
wichtige juristische und sicherheitsrelevante Institutionen im serbisch | |
dominierten Landesteil der RS keine Gültigkeit mehr haben. Dies kommt einem | |
Staatsstreich gleich und ist zugleich ein Angriff auf den Friedensvertrag | |
von Dayton. Dessen Abschluss jährt sich in diesem Jahr zum 30. Mal: Mit | |
einem diplomatischen Kraftakt wurde im Herbst 1995 der mehr als dreijährige | |
Krieg in Bosnien beendet. Unter Verhandlungsführung des damaligen | |
US-Präsidenten Bill Clinton wurde Bosnien und Herzegowina anhand | |
ethnonationaler Trennlinien aufgeteilt. | |
49 Prozent des bosnischen Territoriums wurden zur Republika Srpska erklärt | |
– sie ist das Produkt der gezielten serbischen Vertreibungs- und | |
Auslöschungspolitik. Tausende Frauen, vor allem Musliminnen, wurden während | |
der serbischen Gewaltwelle systematisch vergewaltigt. Eine Überlebende | |
beklagte jüngst in einem Interview mit der Autorin, dass die Internationale | |
Gemeinschaft diese Taten verdränge: Man mache ausschließlich Politik mit | |
der Täterseite, sagt die Frau, die gebürtig aus Foča stammt. „Warum lässt | |
die Internationale Gemeinschaft das alles zu?“ Die Bosnierin zog aus Angst | |
vor neuen Gewaltakten nicht zurück in ihren Geburtsort, heute lebt sie im | |
multiethnischen Sarajevo. | |
Im Juli 1995 mündete der Angriff auf die Zivilbevölkerung schließlich im | |
Völkermord von Srebrenica. Mehr als 8300 muslimische Jungen und Männer | |
wurden von serbischen Truppen getötet, zur Vertuschung der Verbrechen | |
verscharrten diese die Überreste der Toten im ganzen Land. Die Aufteilung | |
Bosniens in zwei Landesteile (Entitäten) unter Vermittlung des Westens galt | |
den Unterhändlern als geeignetes Mittel, um den Krieg zu beenden. | |
Das Vertragswerk von Dayton war jedoch lediglich als Übergang gedacht, | |
keineswegs als Dauerlösung. Dass es nach wie vor die Verfassungsrealität | |
Bosniens prägt, ist als schweres Versäumnis der Internationalen | |
Gemeinschaft zu werten. Und genau dieses schwache Konstrukt erlaubt heute – | |
fast 30 Jahre nach Ende des Krieges – weitreichende Einflussnahmen seitens | |
der Nachbarstaaten. Serbien und die Republika Srpska treiben die | |
großserbischen Ambitionen unter dem Schlagwort „Srpski Svet“ (Serbische | |
Welt) voran – gestützt werden diese Ambitionen vom Kreml. | |
## Kriegsverbrecher werden als Helden gefeiert | |
Die Leugnung des Genozids dient den Ethno-Nationalisten dabei als Vehikel | |
für eine neue Hasspolitik, die auf eine Umdeutung der Geschichte abzielt. | |
Die Gräueltaten an bosnischen Muslimen, so die Botschaft, habe es nicht | |
gegeben. Neben den historischen Fakten werden auch die Verurteilungen der | |
Täter infrage gestellt, etwa die des bosnisch-serbischen Generals Ratko | |
Mladić und des bosnischen Serbenführers Radovan Karadzić durch das | |
Internationale Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien in | |
Den Haag (ICTY). | |
Serbische Nationalisten feiern die Kriegsverbrecher nach wie vor als | |
Helden. Nicht von ungefähr prangen an Häuserfassaden in der serbischen | |
Hauptstadt Belgrad immer wieder Murale mit dem Konterfei von Mladić. Als | |
Propagandaminister half Vučić im Regime von Slobodan Milošević den Hass | |
gegen die Muslime in die Breite der Gesellschaft zu tragen. Wenige Tage | |
nach dem Genozid von Srebrenica drohte er, dass für einen getöteten Serben | |
im Gegenzug 100 Muslime umgebracht würden. | |
Ein völkischer Eiferer mit Hang zur Selbstdarstellung – diese aktive | |
Beteiligung von Vučić am mordenden Milošević-System wird von westlichen | |
Akteuren gerne ausgeblendet. Ebenso wie die Beziehungen des Vučić-Regimes | |
zur Unterwelt sowie sein uneingeschränkter Wille zum Machterhalt. Ende | |
letzten Jahres veröffentlichte Amnesty International einen Bericht, wonach | |
das Belgrader Regime mit modernster Spyware gezielt AktivistInnen und | |
RegimekritikerInnen ausspioniert. Zudem wurden neue Angriffe lanciert, | |
diesmal auf die kosovarische Infrastruktur. Kosovos Premier Albin Kurti | |
sprach von einem „kriminellen terroristischen Angriff, ausgeführt von | |
Banden unter der Leitung Serbiens“. | |
Nach dem Kosovokrieg mit systematischen Verbrechen an der albanischen | |
Mehrheitsbevölkerung hatte sich Kosovo 2008 unabhängig erklärt – Serbien | |
erkennt diesen Schritt bis heute nicht an. Mit seiner Einmischungs-Politik | |
steht Serbien auf dem Balkan aber nicht alleine: Auch das EU-Mitglied | |
Kroatien spielt eine zunehmend zweifelhafte Rolle in der Region. Im | |
Bosnienkrieg hatten kroatische Einheiten unter dem damaligen Präsidenten | |
Franjo Tudjman auf bosnischem Boden Kriegsverbrechen begangen. | |
Ziel war es, aus dem bosnischen Staatsverband „kroatisches“ Territorium | |
herauszulösen, um ein Großkroatien zu formen. Sechs Führer des sogenannten | |
„Herzeg-Bosna“-Parastaates wurden vom Haager Kriegsverbrechertribunal zu | |
111 Jahren Haft verurteilt, unter anderem wegen Verbrechen gegen die | |
Menschlichkeit. | |
Unter der amtierenden nationalistischen Regierung von Andrej Plenković | |
(HDZ) versucht Kroatien in Bosnien und Herzegowina seit Jahren brachial | |
Einfluss zu nehmen. Die bosnischen Kroaten werden dabei über die | |
Landesgrenzen hinweg als Spielball und Erpressungsmasse Zagrebs genutzt. | |
Zuletzt versuchte Kroatien gar, ein Grundsatzurteil zur Abschaffung der | |
systematischen Diskriminierung von Roma, Juden und BürgerInnen in Bosnien | |
und Herzegowina zu Fall zu bringen. Das Urteil hatte der Europäische | |
Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg auf den Weg gebracht. | |
Ziel der kroatischen Regierung ist es, die existierenden | |
ethnonationalistischen Machtstrukturen in Bosnien weiterhin für die eigenen | |
Interessen zu nutzen. Die Parallelen zur aggressiven Politik Russlands | |
gegenüber der Ukraine sind unübersehbar. Statt den Provokationen und | |
Destabilisierungen Einhalt zu gebieten – wie nun vom Auswärtigen Amt im | |
Falle Syriens gefordert – unternimmt der Westen seit Jahren zu wenig. So | |
wird auf dem Balkan nicht ausreichend klargemacht, dass die fragilen | |
Staaten Bosnien und Herzegowina sowie Kosovo dem uneingeschränkten Schutz | |
der Internationalen Gemeinschaft unterstehen und dass ihre territoriale | |
Integrität und Souveränität kompromisslos verteidigt werden. | |
## Der Westen betreibt eine Politik der Samthandschuhe | |
Dabei geht es nicht nur um die Verteidigung der bestehenden Grenzen und | |
damit der geltenden Friedensordnung, sondern vor allem auch um den Schutz | |
des Konzeptes von Multiethnizität gegen aggressive völkische Ideologien. | |
Diese führten bereits in den 90er Jahren zu Mord, ethnischen Säuberungen | |
und Massenvergewaltigungen. Aus diesen Gewaltexzessen hat der Westen | |
bedauerlicherweise kaum die entsprechenden Lehren gezogen. | |
Seit Jahren mangelt es an einer kohärenten Strategie für den Westbalkan. | |
Dadurch konnten sich in den vergangenen Jahren mit Unterstützung Moskaus | |
die aggressiven völkischen Ideologien in der Region neu aufladen. Die | |
US-Regierung von Joe Biden betrieb keinesfalls klare Containment-Politik. | |
Im Gegenteil: Dem auch innenpolitisch immer autoritärer auftretenden | |
serbischen Machthaber Vučić gegenüber setzte sie bis zuletzt auf | |
ostentative Beschwichtigung. Über die Machtzentren Belgrad und Zagreb, so | |
das Kalkül, sollte die Region in Stabilität gehalten werden. | |
In Wahrheit führte dieser Umgang in den letzten 20 Jahren zu gefährlichen | |
Destabilisierungen und immer neuen Eskalationen – vor allem aber | |
verhinderte die Politik der Samthandschuhe entscheidende Schritte auf dem | |
Weg zu Aussöhnung und Demokratisierung. Die EU und ihre Mitgliedstaaten | |
sind ebenfalls bemüht, Vučić milde zu stimmen. Man setzt auf gemeinsamen | |
Handel und wirtschaftliche Verflechtung – das hat Tradition. | |
Schon Angela Merkel baute einseitig auf gute Beziehungen zu Belgrads | |
Machtzentrum. Vučić, der Mann mit der schillernden Vergangenheit – so die | |
naive Hoffnung – werde es schon irgendwie richten. Heute wollen Brüssel und | |
Berlin vor allem von den serbischen Lithiumvorkommen profitieren: Im Sommer | |
2024 wurde medienwirksam ein gemeinsames Abkommen gefeiert, | |
[3][Bundeskanzler Scholz reiste aus diesem Grund eigens nach Belgrad]. | |
Wie schon bei den Gasdeals mit Putin werden angesichts der serbischen | |
Lithiumvorkommen regionale und europäische Sicherheitsaspekte sträflich | |
vernachlässigt. Dass Vučić seit Monaten von einer landesweiten | |
Demokratie-Bewegung unter Druck gesetzt wird, erfordert nun dringend eine | |
klare Positionierung der EU und Washingtons. Auf welcher Seite steht der | |
Westen? Auf der Seite der serbischen Zivilbevölkerung, die genug hat vom | |
hassgetriebenen völkischen Nationalismus der 90er Jahre, von der | |
Bulldozer-Politik gegenüber den Nachbarstaaten, endemischer Korruption und | |
Mafia-durchwirkten Strukturen mit besten Verbindungen in die politische | |
Führung? | |
Oder hält sich der Westen auch in Zukunft bedeckt und stützt damit weiter | |
ein Regime, das schon lange nicht mehr überzeugend an einem EU-Beitritt | |
arbeitet? Laut der Menschenrechtsorganisation Freedom House brach in den | |
letzten Jahren in Serbien der Demokratie-Index ein. Freie Wahlen, | |
Medienfreiheit, das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Unabhängigkeit | |
der Gerichte – unter Aleksandar Vučić sind diese Grundpfeiler der | |
Demokratie zuletzt immer mehr unter Beschuss geraten. Außenpolitisch steht | |
zu befürchten, dass – motiviert durch den neuen prorussischen Kurs der | |
US-Regierung – Serbien seine Eskalations-Politik fortsetzt und die fragile | |
Friedensordnung auf dem Westbalkan zum Einsturz bringt. | |
7 Mar 2025 | |
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## AUTOREN | |
Marion Kraske | |
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