# taz.de -- Die Wahlanalyse von Udo Knapp: Die Verwässerung des Friedrich Merz | |
> Mit einer Regierung aus Union und SPD wird es bestenfalls so weiter gehen | |
> wie bisher. Als Kollateralschaden kann eine insgesamt autoritärere | |
> Republik entstehen. | |
Bild: Vorbereitung zum Machtantritt: Am Ende wird sich mit der neuen Koalition … | |
[1][taz FUTURZWEI] | Ich habe den Sonntag als Wahlhelfer in einem Wahllokal | |
in [2][Berlin-Kreuzberg] verbracht. Gegen Mittag hat, nach vielen anderen, | |
mit und ohne Kopftücher, ein älteres Ehepaar türkischer Herkunft gewählt. | |
Er versenkt seinen Wahlschein in der Urne, dreht sich um und fordert einen | |
anderen Wahlhelfer auf, ihn, seine Gattin und mich in ihrer Mitte zu | |
fotografieren, während seine Gattin ihren Wahlschein einwirft. | |
Deutsches Selbstbewusstsein mit Migrationsgeschichte, die freundliche | |
Umarmung als Bekräftigung ihrer Bürgerpflicht. Die beiden haben sieben | |
Kinder, sechs von ihnen wurden in Deutschland geboren, alle haben | |
erfolgreich studiert, seit so vielen Jahren leben sie in einer | |
Vierzimmerwohnung in der Skalitzer Straße. | |
Ich bin so froh gewesen nach dem Auftritt der Beiden, dass mir der Rest des | |
Tages leicht gefallen ist. Mein Gefühl war: Die deutsche | |
Migrationsgesellschaft zeigt sich an diesem Sonntag an der Wahlurne von | |
ihrer besten, nämlich alles Gegensätzliche zusammenführenden Seite. Wir | |
leben in Deutschland in einer stabilen Demokratie. 82,5 Prozent | |
Wahlbeteiligung sind dafür eine klare Ansage. | |
## Ernüchterndes Ergebnis | |
Zum Ergebnis: [3][Friedrich Merz] (CDU) wollte mehr als 30 Prozent der | |
Stimmen, es wurden 28,5. Der künftige Ex Kanzler [4][Olaf Scholz] (SPD) hat | |
bis zur Öffnung der Wahllokale immer wieder erklärt er werde gewinnen, | |
obwohl die historisch schlechten 16,5 Prozent seit Wochen für jeden Doofen | |
als das Optimum für die SPD erkennbar waren. [5][Robert Habeck] (Die | |
Grünen) hat seine intellektuellen Qualitäten demütig hinter einer | |
pragmatischen Polit-Rücksicht versteckt. Dahinter ist er selbst fast völlig | |
verschwunden. Immerhin sind dabei 11,6 Prozent raus gekommen. Warum er | |
jetzt kein Führungsamt mehr annehmen will, ist nicht nachvollziehbar. | |
Alle drei Spitzenpolitiker haben sich in ihren langweiligen Auftritten | |
keine politischen Debatten geliefert. Ihr Reden war geprägt von der leeren | |
Sprache und der Lösungslogik von Problemsachbearbeitern. | |
Ihr belangloses Zahlengeklingel, ihr Hin und Her-Gerede hat nur verdeckt, | |
dass allen Dreien die Leidenschaft für Politik völlig abgehen. Sie haben es | |
noch nicht mal hinbekommen, die Lügen, die Demokratiefeindschaft und die | |
Putinfreundschaft von [6][Alice Weidel] (AfD) und ihren Wählern entschieden | |
und hart zurück zu weisen. | |
## Die Mängel der politischen Mitte | |
Es reicht eben nicht, die [7][AfD] als Schmuddelkinder auszugrenzen. Sie | |
sind Feinde der Freiheit, ihre Partei gehört verboten. Die AfD-Mehrheiten | |
in allen neuen Bundesländern sind auch eine Quittung dafür, dass den neuen | |
Bundesbürgern die Wiedervereinigung ohne jede politische Zumutung bezahlt | |
worden ist. | |
Es scheint fast so, als ob ein wachsender Typus Ossi seine gute alte Mauer | |
wiederhaben will. | |
Es verwundert übrigens nicht, dass die [8][Linkspartei mit ihrer Kampagne | |
erfolgreich war], die auf unangepasste Opposition aufbaute. Hier die drei | |
„Silberlocken“ [9][Gysi], [10][Ramelow] und [11][Bartsch] (die ersten | |
beiden gewannen Direktmandate) in der Rolle der verantwortungsbewussten, | |
erfahrenen Politalten, dort die tätowierte Influencerin [12][Heidi | |
Reichinnek] als Gesicht einer aktuellen Jugendkultur, das war eine | |
gelungene Präsentation als lebendige Oppositionelle, in einem schmerzend | |
unpolitischen Wahlkampf. | |
Und jetzt – [13][FDP] raus, [14][BSW] nicht drin, beides keine Verluste, | |
aber mit dem Effekt, dass es für [15][Union] und [16][SPD] zu einer | |
Regierungsmehrheit reicht und die Grünen in der Opposition gelandet sind. | |
Heißt: Friedrich Merz muss jetzt mit der SPD zusammen regieren. Betonung | |
auf „zusammen“. Durchregieren wird es nicht geben. Dabei verlangen die | |
aktuellen Probleme mutige Entscheidungen. | |
## Der „Westen“ am Ende | |
Die Nachkriegsordnung des Westens ist erst jetzt wirklich zu Ende gegangen. | |
Als stärkste europäische Zentralmacht muss Deutschland in eigenem Interesse | |
die Integration der [17][EU] vertiefen, die Verteidigungsfähigkeit | |
voranbringen und Sicherheitstruppen für die Restukraine aufstellen. | |
Ein etwaiger Versuch, einen Wiederaufschwung der Wirtschaft mit | |
Steuergeschenken und dem Rückbau der erfolgreichen Ansätze grüner | |
Transformation zu erzwingen, würde nicht zum Aufschwung führen, sondern die | |
Krise nur vertiefen. | |
Eine scharfe Antimigrationspolitik kann die Integration der EU zerreißen, | |
ohne die [18][Migration] sinnvoll zu steuern. Eine Aufhebung der | |
[19][Schuldenbremse] ist wegen der neuen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag | |
nicht machbar. | |
## Verwässerung und das „Weiter so“ | |
Ohne Strukturänderungen in allen sozialen Systemen wird die Finanzierung | |
aller anstehenden Aufgaben also kaum möglich sein. Das [20][Bürgergeld] | |
abschaffen, die [21][Renten] mit Aktienspekulation sichern, die | |
Wohnungskrise mit mehr Markt und der Aufhebung heutiger Bau-Vorschriften | |
lösen – alles das wird die SPD am Ende so verwässern, dass es überhaupt | |
kein Vorankommen geben wird. | |
Das heißt: Mit einer Regierung aus Union und SPD wird es bestenfalls so | |
weiter gehen wie bisher. Die Republik wird dabei aber keinen Schaden | |
nehmen, alles wird nicht so schlimm, wie es gerade erscheint. | |
## Die Risiken der „großen Koalitionen“ | |
Allerdings kann diese Politik dazu führen, dass die AfD sich weiter | |
stabilisiert und bei künftigen Landtagswahlen im Osten sogar | |
Regierungsmacht gewinnt – etwa in Mecklenburg-Vorpommern. Viel spricht | |
dafür, dass CDU und SPD die sogenannte Brandmauer zu AfD zwar nicht | |
einreißen, aber sich weiter von der AfD treiben lassen und sich von ihr die | |
Themen und Inhalte setzen lassen. | |
In der Folge kann eine insgesamt autoritärere Republik entstehen. Es ist | |
offen, ob Grüne oder Linke diese Entwicklung mit einer konstruktiven | |
Opposition und dem Bild einer freiheitlichen und machbaren ökologischen | |
Republik aufhalten können. Zu Untergangsstimmungen gibt es dennoch keinen | |
Grund. | |
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25 Feb 2025 | |
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Udo Knapp | |
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