# taz.de -- Roman von David Safier im Theater Bremen: Ein Bündel Katastrophen | |
> David Safier zeichnet den Werdegang seiner Eltern zwischen Holocaust und | |
> Alltagsklippen nach. Das Theater Bremen setzt ihnen ein würdiges Denkmal. | |
Bild: Auch Karstadt ist nicht unsterblich: Shirin Eissa mit Einkaufstüte | |
Bremen taz | „Wer weiß, welche verbalen und humanitären Dammbrüche wir bis | |
dahin noch erleben werden“, schrieb Michael Börgerding, der im Januar | |
verstorbene Generalintendant des Theaters Bremen, in seiner Oktoberkolumne | |
vor etwa einem halben Jahr nahezu prophetisch. | |
„Bis dahin“: Damit meinte er die Premiere von „Solange wir leben“ nach … | |
gleichnamigen Roman von David Safier. Und der rührt heute noch an andere | |
Themen als bei seinem Erscheinen als Roman vor zwei Jahren. Börgerding | |
nannte das Buch ein „wunderbares Vademecum in diesen Zeiten der verbalen | |
Aufrüstungen gegen Menschen, die bei uns Schutz suchen“. | |
Safiers Vater, ein Wiener jüdischer Abstammung, entging knapp der | |
nationalsozialistischen Vernichtung. Dass er viele Jahre später | |
ausgerechnet eine Bremerin aus einer Arbeiterfamilie heiraten würde, ist | |
eine der Volten dieser Geschichte, die so unwahrscheinlich klingen, dass | |
sie wahr sein müssen. | |
Die Geschichte von David Safiers Eltern Joschi und Waltraut ist kompliziert | |
und lang. Mehr als 460 Seiten hat das Buch, John von Düffel hat daraus eine | |
Bühnenfassung erstellt. Beinahe vier Stunden nimmt sich Hausregisseurin | |
Alize Zandwijk, um die rund 80 Jahre, die sie dauert, auf der Bühne des | |
Bremer Theaters am Goetheplatz unterzubringen; die Dramaturgie dieser | |
Uraufführung hat Benjamin von Blomberg besorgt. | |
## Insolvenzen und Herzinfarkte | |
Es ist eine Geschichte, die nicht nur einen Weltkrieg und einen Völkermord | |
umfasst, sondern auch mehrere kaputte Ehen, familiäre Zerwürfnisse, | |
Insolvenzen, Herzinfarkte, etliche Schlaganfälle, Suchtkrankheiten… Es gibt | |
da eigentlich kaum eine große und kleine Katastrophe, die es nicht gibt. | |
Das Tempo ist fein kalibriert, immer wieder ziehen Jahre in fast schon | |
nüchternem Erzählton in wenigen Minuten an uns vorbei, bis Zandwijk das | |
Ensemble in die Szenen eintauchen lässt, in denen neben den Dramen auch das | |
lebendig wird, was Joschi und Waltraut immer wieder neuen Mut fassen lässt: | |
die Liebe, die sie füreinander haben und die nicht leicht errungen ist. | |
Denn 20 Jahre nach dem Holocaust ins Land der Täter zurückzugehen, um zu | |
bleiben – das ist für Guido Gallmanns Joschi, keine leichte Entscheidung. | |
Während Waltraut (Shirin Eissa) sich lange schwertut mit diesem viel | |
älteren Mann, der noch verheiratet ist, als sie sich kennenlernen. Und dem | |
sie sich trotz aller in ihr wohnenden Lebenslust bis zu seinem Ende | |
aufopfert. | |
Guido Gallmanns Joschi ist in Zandwijks Inszenierung von Anfang an ein | |
alter Mann, der auf unsicheren Füßen steht. Nur manchmal blüht Joschi auf, | |
als er Waltraut kennenlernt, beispielsweise, aber sein Leben hat, das | |
scheint sein Körper zu sagen, schon immer auf unsicheren Beinen gestanden. | |
Shirin Eissa lässt ihre Waltraut dagegen vom Kleinkind bis zur Todkranken | |
alle Lebensstadien in einer bisweilen erschütternden Intensität durchleben. | |
Gallmann und Eissa sind aber immer auch Teil eines tollen Ensembles, das | |
zum Teil schon sehr lange mit der Regisseurin arbeitet. Susanne Schrader | |
unter anderem als Joschis Mutter Scheindel, Nadine Geyersbach vor allem als | |
Joschis kämpferische Schwester Rosl, Martin Baum als deren Ehemann Jakov | |
etwa sind in sämtlichen Stimmungslagen zwischen Verzweiflung und Euphorie | |
mit Präzision und Spielwitz zu erleben. | |
Während der Multiinstrumentalist und Sänger Matti Weber, der seit einigen | |
Jahren regelmäßig mit Zandwijk arbeitet, das Geschehen auf der Bühne nicht | |
nur handwerklich beeindruckend grundiert. | |
Für das Bremer Publikum gibt es dann noch jede Menge Lokalkolorit – was für | |
die Geschichte selbst nicht entscheidend sein mag. Aber die Frage, ob oder | |
wann man „zu“ oder „nach Karstadt“ [1][geht], ist sicher hier mehr als | |
anderswo von Bedeutung. Auch wenn sie sich eines Tages nicht mehr stellen | |
mag, denn auch Karstadt ist bekanntlich nicht unsterblich. | |
Was an diesem ausladenden Abend, der in keiner Sekunde langweilig wird, | |
aber wirklich bis an die Schmerzgrenze geht, ist das, was auch ein | |
Familienepos wie „Das achte Leben (für Brilka)“ von [2][Nino | |
Haratischwili], das Zandwijk auch schon in Bremen auf die Bühne wuchtete, | |
bietet. Nämlich eine Perspektive. Das Schlusswort hat an diesem Abend der | |
Sänger Matti Weber: Solange wir an jemanden denken, ist er noch nicht | |
wirklich tot. | |
Gewiss, [3][David Safier] – der Sohn, der die so romantische wie traurige | |
Liebesgeschichte seiner Eltern aufschrieb –, hält seine Eltern und die | |
Menschen um sie herum somit lebendig. Zandwijk und das Ensemble des | |
[4][Theater Bremen] erwecken sie noch einmal neu. Aber es bleibt doch ein | |
Gefühl dafür, wie fragil der Mensch ist, wie viel Schmerz neben der Freude | |
in so ein Leben passt – und wie wenig von ihm bleibt. | |
15 Mar 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Im-Berliner-Karstadt-am-Hermannplatz/!6056783 | |
[2] /Autorin-Nino-Haratischwili-ueber-Georgien/!6041746 | |
[3] /Kollege-David-und-sein-neues-Buch/!6045643 | |
[4] https://theaterbremen.de/ | |
## AUTOREN | |
Andreas Schnell | |
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