# taz.de -- Die Kunst der Woche: Lehrstücke des Neuen Sehens | |
> Die übersehenen Ausschnitte einer Stadt, Ellen Auerbach und Lea Grundig | |
> in Palästina und unvermutete Gewächse auf Baustellen stehen auf dem | |
> Programm. | |
Bild: Elisabeth Neudörfl, Ansichten von K., #76, Mainzer Straße, 2024 | |
Ursprünglich entstanden die Stadtfotografien, die Elisabeth Neudörfl bei | |
[1][Barbara Wien] unter dem Titel „Ansichten von K.“ zeigt, auf Einladung | |
des Museums Pfalzgalerie eben jener Stadt K., die Kaiserslautern ist. Von | |
den vier Teilnehmern erhoffte man sich „neue Sichten auf einen spannenden | |
urbanen Ort, der sich inmitten eines Wandels von der Arbeiterstadt zum | |
zukunftsweisenden Technologiestandort befindet“, wie es auf der Website des | |
Museums heißt. | |
Schaut man sich nun die Auswahl von 35 Motiven bei Barbara Wien an, wird | |
schnell klar, dass Elisabeth Neudörfl diese Erwartung in bekannter Manier | |
grandios unterlaufen hat. Die Stadt kommt bei ihr ohne Menschen und | |
dezidiert ausschnitthaft ins Bild, nur mit ihren Hausecken, den Straßen mit | |
Ampeln und Verkehrsschildern, den Firmenlogos und Fahnen. Das gerne | |
übersehene, banale Detail rückt in den Fokus: Garageneinfahrten, | |
Hauseingänge oder das Stadtgrün in all seinen hilf- bis lieblosen Formen. | |
Gleichzeitig ist jede Ansicht voller Leben, Formen, Licht. | |
Ungewohnt ist die Ironie, die in vielen Aufnahmen sichtbar wird, etwa wenn | |
die Ansicht der Pariser Straße ein großer, superamerikanischer Burger King | |
Drive-In ist oder sich das Spiel der Kaiser von China mag nicht im ziemlich | |
trostlosen „China-Town“-Restaurant in der Ansicht der Kaiserstraße | |
entdecken lässt. Eine rätselhafte künstliche Palme, wie sie gerne als | |
Antenne benutzt wird, steht ausgerechnet in der Mainzer Straße und den | |
Willy-Brandt-Platz beherrscht eine einsame Steinsäule aus längst | |
vergangenen Zeiten. | |
Was die Ansichten der Stadt K. tatsächlich von denen der Stadt XY | |
unterscheidet – sehr wahrscheinlich ebenfalls im Wandel vom Industrie- zum | |
Dienstleitungs- und Technologiestandort befindlich –, sind die Ansichten | |
der amerikanischen Stadt in der Stadt, in der rund 50.000 US-Soldat:innen | |
leben. Deshalb gibt eine Ansicht der Fourth Avenue und der riesigen | |
Pickups, die in den Garageneinfahrten stehen. | |
Für rund 1,6 Milliarden Euro, so die Soziologin Annette Spellerberg im | |
großartigen Künstlerbuch, wird im nahegelegenen Landstuhl bis 2027 das | |
größte Militärhospital außerhalb der Vereinigten Staaten fertiggestellt. | |
Sofern nicht Elon Musk mit der Kettensäge kommt. Wenn die Situation heute | |
fragiler ist, als man glauben möchte, Elisabeth Neudörfl hatte dafür schon | |
ein Gespür, als sie 2023 in der Stadt fotografierte, wie ihre eigensinnigen | |
Ansichten von K. zeigen. | |
## Aus diagonaler Perspektive | |
Die Aufnahme ist geradezu ein Lehrstück des Neuen Sehens: Von oben, aus | |
diagonaler Perspektive, fotografiert Ellen Auerbach einen Fassadenmaler, | |
der auf einem mit Seilen gesicherten Brett vor der Wand eines Neubaus sitzt | |
und das Gebäude weißelt. Das Foto könnte in Berlin entstanden sein, wo | |
Auerbauch mit ihrer Kollegin vom Bauhaus, Grete Stern, unter dem Namen | |
Ringl + Pit ein erfolgreiches Studio für Porträt- und Werbefotografie | |
betrieb. Das Licht jedoch verortet die Szene im Süden. Entstanden ist sie | |
in Tel Aviv. Dorthin emigrierte Ellen Auerbach nach der Machtergreifung der | |
Nazis, als sie 1933 ihr Studio aufgeben musste. | |
Viel später, 1940, kam Lea Grundig nach einer dramatischen Flucht nach | |
Haifa. Als Parteimitglied hatte die ausgebildete Grafikerin in Deutschland | |
für KPD-nahe Publikationen gearbeitet. Auch in Palästina machte sie sich | |
schnell einen Namen als Illustratorin. Neben zahlreichen Auftragsarbeiten | |
entstanden freie Arbeiten, Federzeichnungen, etwa Porträts jüdischer und | |
arabischer Menschen, Landschaftsbilder und eine Reihe von Blättern zur | |
Shoa, die 1942/43 entstand. | |
Mit expressiver Wucht und die Szenen dunkel mit dem Pinsel schattierend, | |
imaginierte Lea Grundig den Krieg in den Straßen Polens, die Verbrennung | |
von Thorarollen, den Hunger im Ghetto und die Misshandlung eines Kindes | |
durch die Kommandantin, schließlich die Menschen am Sammelpunkt für die | |
Deportation in die Konzentrationslager und in den Tod. Die im Mandatsgebiet | |
kursierende, ursprünglich an die Alliierten gerichtete diplomatische Note | |
vom 10. Dezember 1942, in der die polnische Exilregierung über die | |
Vernichtung der Juden im besetzten Polen berichtete, mag die | |
Auseinandersetzung mit dem Thema angeregt haben. | |
Nun sind diese Blätter zusammen mit den Porträts und den gezeichneten | |
Alltagsszenen, mit den Fotografien und zwei kurzen Filmen von Ellen | |
Auerbach in einer von Eckart Gillen kuratierten Ausstellung im Museum | |
Eberswalde zu sehen. Die Ausstellung schöpft aus dem Archiv der Berliner | |
[2][Akademie der Künste], die die Nachlässe der beiden Künstlerinnen | |
betreut, und ist eine echte Entdeckung. Bei Ellen Auerbach wurde die Hälfte | |
der gezeigten Abzüge erstmals von den Negativen entwickelt, die Auerbach in | |
Palästina belichtete. | |
Wie sahen die beiden Jüdinnen das Leben und die Menschen in Palästina? | |
Beide waren sie nicht freiwillig in das von den Briten verwaltete arabische | |
Mandatsgebiet gekommen. Aber sie fanden dort Schutz vor der Verfolgung, | |
nicht zuletzt, weil die zionistische Bewegung mit Nachdruck an der Gründung | |
einer nationalen Heimstätte der Juden arbeitete. Ellen Auerbach, die weder | |
richtig Englisch noch Hebräisch oder Arabisch sprach, verständigte sich mit | |
ihrer Fotografie. Das wird in der Ausstellung deutlich. | |
So spezialisierte sie sich in ihrem Fotostudio in Tel Aviv einerseits | |
erfolgreich auf Porträts von Kindern, die sie spielend und nicht nur steif | |
vor der Kamera posieren ließ. Andererseits waren ihre Aufnahmen von der | |
Schiffspassage, vom Ankommen und vom jüdischen Alltag in Tel Aviv, von | |
Architektur, Landschaft und arabischem Leben auch Mittel der Selbstfindung | |
in einer ihr völlig fremden Umgebung. | |
Dabei verändert sich ihr Stil. Sie reportiert und fotografiert mit ihrer | |
Leica spontan und unbeobachtet. Dennoch mag man ihre Aufnahmen nicht als | |
Street Photography bezeichnen. Dafür hält sie zu viel Distanz zu den | |
Menschen. Doch gerade diese Distanz führt zu den großartigen Aufnahmen, die | |
sie am Strand von Tel Aviv macht. | |
Etwa im Bild der Ungleichzeitigkeit von zionistischem Aufbruch und | |
religiöser Tradition, wenn westlich gekleidete Passanten den Strand | |
flanieren, während sich dort eine dem Meer zugewandte Gruppe Orthodoxer zum | |
Gebet versammelt hat. Ellen Auerbach konnte sich mit keiner der beiden | |
Ausprägungen jüdischen Lebens identifizieren und als 1936 der Arabische | |
Aufstand ausbrach, beschloss sie Palästina zu verlassen und nach London zu | |
gehen. 1937 emigrierte sie mit ihrem Mann in die Vereinigten Staaten. | |
Obwohl Lea Grundig, anders als Auerbach, gleich anfing Hebräisch zu lernen | |
und in der Kunst und Kulturszene von Tel Aviv und Jerusalem recht | |
erfolgreich Fuß fasste – sie hatte in ihren acht Jahren in Palästina zwölf | |
zum Teil viel beachtete Einzelausstellungen –, war ihr Verhältnis zum | |
Zionismus und zum neu gegründeten Staat Israel durchaus kompliziert. | |
Als Jugendliche war sie Mitglied des zionistischen Jugendbunds Blau-Weiß | |
gewesen bevor sie sich der kommunistischen Sache verschrieb. In Palästina | |
trat sie für eine Zweistaatenlösung ein, konnte sich aber neuerlich mit dem | |
zionistischen Projekt identifizieren. In Israel, so ist von ihr | |
überliefert, fand sie Freunde, in der DDR, in die sie 1949 zurückkehrte, um | |
das neue Deutschland aufzubauen, hatte sie, die zur Präsidentin des | |
Künstlerverbands aufstieg, nur Kollegen. | |
## Die Pracht der Baustellengewächse | |
„In the garden“ nennt Jane Garbert ihre Ausstellung bei Vincenz Sala, in | |
der ganz unvermutete Gewächse ihre Blüten treiben. Das wundert einen | |
zunächst nicht. Denn man sieht sofort, dass man sich auf einer Baustelle | |
befindet, wo bekanntlich viele bunte Kabel und Schläuche aus den Öffnungen | |
im Beton der Gebäude wachsen. Selten aber wurde ihre insgeheime Pracht | |
erkannt. Und noch seltener wurde sie so raffiniert porträtiert wie von der | |
Künstlerin, die ihre Fotografien auf Glasplatten druckt und mit | |
industriellen Displays für geflieste Revisionsklappen im Sanitärbereich | |
rahmt. | |
Selten wurde auch der botanische Charakter der Baustellengewächse gesehen. | |
Da strecken sie sich rosa, grün, hellblau, braun und weiß dem Licht | |
entgegen, verknoten sich aufs Schönste, bündeln sich zu dunklen Büschen, | |
drehen elegante Schleifen und treiben schließlich köstliche Blüten aus | |
schmalen Schiebesteckern, nur um bald darauf unter Putz und Bodenbelag zu | |
verschwinden. Gut, dass Jane Garbert, die 2019 ihren Abschluss an der UdK | |
machte, ihr kurzes Leben in der Fotoserie ANABEKI festgehalten hat – ein | |
Palindrom des Wortes Ikebana, das „Blumen zum Leben erwecken“ bedeutet. | |
Die Motivik ihrer installativen Schau, zu der „Rabe 1“, ein pechschwarzer | |
Teertopf und das große Format eines rot-weißen Absperrbands gehören, das | |
Garbert in Hinterglasmalerei ausgeführt hat, sowie die transparentgrüne | |
Schutzfolie, die die Galeriefenster überspannt, kommt nicht von ungefähr. | |
Denn die Künstlerin arbeitet auf Baustellen, sie saniert, repariert, | |
retuschiert und imitiert Sichtbeton. Sie bewegt sich in Räumen, die nach | |
wie vor von männlicher Arbeit und männlichem Geltungsanspruch besetzt sind, | |
und entdeckt gerade darin das Zarte, die Poesie im Funktionalen und den | |
Witz und die Albernheit in der teuren, kapitalintensiven Konstruktion. | |
Großartig. | |
14 Mar 2025 | |
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## AUTOREN | |
Brigitte Werneburg | |
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