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# taz.de -- Kunstverein Kestner Gesellschaft: Ein Haus im Fluss
> Nicht ohne Turbulenzen hat sich Hannovers Kestner Gesellschaft von ihrem
> Künstlerischen Leiter Adam Budak getrennt. Die Nachfolge-Suche läuft.
Bild: Vor dem Hintergrund der jüngsten Turbulenzen wirkt Ewa Partums Neonarbei…
Aufgeräumt sieht es derzeit in der Kestner Gesellschaft Hannover aus,
vielleicht sogar: leer. Die überbordende Buchauslage im Eingangsbereich ist
verschwunden, keine der zyklisch wechselnden, großen Wandarbeiten hängt
mehr im Lichtgraben, der Cafégalerie und Erdgeschoss verbindet. Immerhin:
das kleine plüschige Café gibt es noch, auch die (kostenfreie) Cinémathèque
mit ausstellungsbezogenem Filmangebot im Erdgeschoss – und den frischen,
opulenten Blumenstrauß im Foyer.
Das alles sind [1][Relikte des Geistes von Adam Budak], der im November
2020 die Künstlerische Leitung der Kestner Gesellschaft übernahm, sie
„gastfreundlicher“ machte, aber zum Ende des vergangenen Jahres vorzeitig
seinen Hut nehmen musste: Finanzielles Missmanagement aufgrund viel zu
aufwendiger Ausstellungen und Aktivitäten hatte der Vorstand Budak
vorgeworfen und einvernehmlich-eigenhändig dessen Vertrag aufgelöst. Die
Vereinsmitglieder fühlten sich überrumpelt und sprachen sich in einem
offenen Brief für den geschassten Leiter aus – es nützte nichts.
Budaks letzte geplante Ausstellung „Zwischen Vergangenheit und Zukunft:
Über Hannah Arendt. Acht Übungen des politischen Denkens“, die im November
2024 hätte starten sollen, wurde abgesagt. Stattdessen eröffnete im
Dezember das noch bis Anfang März zu sehende Programm: eine Doppelschau mit
Skulpturen, Installationen, Zeichnungen und Aquarellen von Paloma Varga
Weisz sowie Malerei und eine Installation der
nigerianisch-US-amerikanischen [2][Künstlerin Monilola Olayemi Ilupeju].
Dazu kommt eine Auswahl an Editionen und Plakaten, die einerseits die
Institutionsgeschichte Revue passieren lassen – und wohl auch etwas Geld in
die Kasse spülen sollen: Sie alle sind käuflich zu erwerben.
Ersonnen hat das Ersatzprogramm in Windeseile [3][Alexander Wilmschen,
vormals Budaks rechte Hand, nun Interimsleiter] des Hauses, der sich damit
eigentlich auch als Nachfolger empfiehlt. Aber die Position wurde
ausgeschrieben, im Oktober schon sei „eine Vielzahl qualifizierter
Bewerbungen eingegangen, die bereits gesichtet wurden“, heißt es aus
Hannover.
Über drei der vier Säle erstrecken sich nun die Arbeiten von Paloma Varga
Weisz’ Ausstellung „Multiface“. Die Künstlerin, 1966 in Mannheim geboren,
hat an der Kunstakademie in Düsseldorf studiert, wo sie heute lebt und
arbeitet. Unverkennbar ist, dass sie vorher eine Ausbildung zur
Holzbildhauerin in Oberbayern absolviert hat: Sie belässt etwa rohe
Holzklötze im Großen und bearbeitet nur in Teilbereichen minutiöse Tier-
oder Menschenköpfe heraus. Die können so perfekt nachbildnerisch sein wie
der Charakterkopf der Uta von Naumburg, den sie zudem mit einer artfremden
Keramikglasur überzogen hat.
Denn auch das macht sie: Keramiken wie zerfließende Schokolade, die über
Jahre zur Serie „Wilde Leute“ herangewachsen sind. Da wären Menschen mit
tierischen Schlappohren und Physiognomien oder Tiere in menschlichen Posen.
Diese Zwitterwesen können auch größer werden: Dann wechselt die Künstlerin
vom Holz zum Bronzeguss.
Auch vor der ganz monumentalen Bronze schreckt [4][Varga Weisz] nicht
zurück: „Rug People“ (2011) versammelt fünf Männerhäupter, durch Karton…
oder Stäbe stabilisiert. Jeder blickt in eine andere Richtung, und alle
somit aneinander vorbei – ein beißender Kommentar zu Rodins „Bürger von
Calais“, die das gemeinsame Ziel einte, mit ihrem Kapitulationsritual im
Büßerhemd eine englische Belagerung zu beenden.
Die Familie von Paloma Varga Weisz ist ungarisch-jüdischer Herkunft, war
von der NS-Vernichtung betroffen. Sie mag daraus die Konsequenz gezogen
haben, allem allzu Menschlichen zutiefst zu misstrauen und stattdessen
vieldeutige, in den Grenzen fließende Objekte und Geschichten anzulegen.
Auch die in Berlin lebende, 1996 in den USA geborene und dort ausgebildete
Monilola Olayemi Ilupeju liebt es metaphorisch: „BloodLetter“ bedeutet ja
nicht, dass der gleichnamige Textband, der im Raum ausliegt, mit Blut
geschrieben wäre; der Verweis steht für Familie, Lebensfreude, Farbigkeit,
aber auch Gewalt und Migration, wird in Bild- und Textarbeiten multimedial
interpretiert.
Als Malgrund verwendet Ilupeju meist Rinderhäute, die in ihrer unregelmäßig
organischen Kontur Partien der Keilrahmen freilassen. Das gibt den Bildern,
die auf Familienfotos basieren, etwas Spontanes, besonders wenn sie dichte
Szenen des Lebens zeigen: Frauen beim traditionellen Frisurenstyling etwa.
Oder eine Gruppe afrikanischer Patienten mit Zetteln in der Hand: Sie
warten auf die Blutabnahme – archaischer Aderlass in Ermangelung
fortschrittlicherer medizinischer Versorgung.
Ilupeju porträtierte auch ihre Mutter, die nach dem Umzug in die USA von
einer neuen Ungewissheit geprägt zu sein scheint. Während den Balkon des
Großvaters in Afrika traditionelle Bauformen schmücken. Aus diesen
Gitterelementen aus gebranntem Ton ist auch der kleine Pavillon gebaut, in
dessen Inneren im zentralen Textband gelesen werden kann: ein Ruhepol wie
auch gedanklicher Transfer zwischen Kontinenten, Kulturen und Techniken.
11 Feb 2025
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## AUTOREN
Bettina Maria Brosowsky
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