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# taz.de -- Retrospektive in Hannover: Mehr Lissitzky geht nicht
> Vor 100 Jahren wurde Hannover ein wichtiger Ort für den russischen
> Künstler El Lissitzky. Daran erinnert mit viel Material die
> Kestner-Gesellschaft.
Bild: Zum Geldverdienen: Werbung für eine Schachtel mit Siegellack
Hannover taz | Im frühen 20. Jahrhundert haben viele Künstler:innen mit
speziellen Raumideen experimentiert, ihre Demonstrations- oder
Künstlerräume wurden fast zu einem eigenen Genre. Erstaunlich produktiv war
man in dieser Hinsicht in Hannover: [1][Kurt Schwitters (1887–1948) ließ
hier ab 1923 seinen privaten Merzbau] durch die Geschosse des eigenen
Mehrwohnungshauses wuchern.
Auch der in Westrussland geborene El Lissitzky (1890–1941) konnte 1927 sein
interaktives „Kabinett der Abstrakten“ im lokalen Provinzialmuseum
realisieren: etwa 25 Werke gegenstandsloser Kunst auf nur 23 Quadratmetern
Fläche.
Museumsdirektor Alexander Dorner (1893–1957) hätte sogar gern noch einen
weiteren Künstlerraum realisiert, den „Raum der Gegenwart“: Er sollte den
damals hochmodernen künstlerischen Medien Fotografie, Bildprojektion, Film
sowie kinetischen Objekten und technischen Lichtmodulationen gelten.
Das v[2][om Bauhaukünstler László Moholy-Nagy (1895–1946) um 1930 dafür
erarbeitete Raumkonzept] fiel der Weltwirtschaftskrise zum Opfer,
Lissitzkys Kabinett dem NS-Regime und Schwitters’ Merzbau alliierten
Bomben. Immerhin: Nach einigen provisorischen Rekonstruktionen ist das
Kabinett der Abstrakten 2017 im Sprengel-Museum Hannover
wiederauferstanden, wie dort im Übrigen bereits seit Mitte der 1980er Jahre
ein Teil des Schwitter’schen Merzbaus.
## Die allererste „Kestner-Mappe“
Der umtriebige, international gut vernetzte Schwitters hatte El Lissitzky
ins Norddeutsche geholt, und zwar 1923 mit einer Einladung zu einer
Ausstellung in die sich progressiv verstehende Kestner-Gesellschaft. Nur
sieben Jahre nach der Gründung des großbürgerlich alternativen Kunstvereins
ein inhaltlicher Paukenschlag: El Lissitzky formulierte nichts weniger als
ein neues künstlerisches Vokabular.
Angelehnt an die spirituell grundierte, radikal gegenstandslose Malerei des
Suprematismus von Kasimir Malewitsch erstrebte Lissitzky eine Kunst der
erweiterten und reinen Sinneserfahrung, die er, als gelernter Architekt und
Konstrukteur, vorrangig in der räumlichen Dimension realisiert sah. Sie
sollte zudem das gesamte Leben neuartig umfassen – hier klang sicherlich
gehörig Revolutions-Pathos nach.
Mit Lissitzkys Ausstellung wurde zugleich eine Grafik-Edition, die
allererste „Kestner-Mappe“ überhaupt herausgegeben. Da sie wie warme
Semmeln wegging, folgte unmittelbar eine zweite Mappe: zehn Lithografien
der Figurinen und einer „Schaumaschinerie“ zur elektromechanischen
Inszenierung der futuristischen Oper „Sieg über die Sonne“ von M. W.
Matjuschin. Die „Spielkörper“ genannten Puppen galten Charakterphänomenen:
der Ängstliche, der Zankstifter, der Ansager.
Hannover wurde für El Lissitzky eine wichtige biografische Station: Er
erhielt Atelier und Quartier über der Kestner-Gesellschaft, wurde mit
typografischen und werbegestalterischen Aufträgen ausgestattet, er lernte
in Sophie Küppers, der Witwe des ersten Kestner-Direktors, seine zukünftige
Ehefrau kennen, ebenso einige gutsituierte Wohltäter:innen, die dem schwer
an Tuberkulose Erkrankten einen Sanatoriumsaufenthalt in der Schweiz
finanzierten und ihm damit möglicherweise das Leben retteten.
An dieses Jubiläum, also 100 Jahre El Lissitzky in Hannover, knüpft nun
eine umfangreiche Ausstellung in der Kestner-Gesellschaft an. Schon im
Titel ambitioniert – „Der neue Mensch, der Ansager, der Konstrukteur. El
Lissitzky: Das Selbstbildnis als [3][Kestner Gesellschaft]“ –, umfasst sie
in den vier Haupträumen des Hauses wohl mehr als 100 Arbeiten, darunter
viel Aktuelles, auch als Neuproduktionen, und versteht sich als
Selbstvergewisserung eines ungebrochen progressiven Anspruchs und Auftritts
der Institution.
Dass die Besucher:innen eine überwältigende, das eigene
Assoziationsvermögen beständig fordernde Fülle erwartet, versteht sich bei
den Ausstellungen von Kestner-Hausherr Adam Budak mittlerweile. Aber, so
wird sich manche:r dann doch vor so manchem Stück fragen: Was will uns das
nun zu El Lissitzky sagen?
Etwa, wenn eine große Bühnenbildszenerie inklusive geometrischen Wandbildes
und Badewanne demonstrieren soll, wie sich aktuelle Kunstschaffende in
ihrem Atelier an der ehemaligen Avantgarde „abarbeiten“. Oder wenn sich die
gut bekannten „Faltenwürfe“ einer weiteren deutschen Künstler:in in
extenso ausbreiten dürfen.
Nun ließe sich ja, böse gesagt, El Lissitzkys Repertoire auf
schwindelerregende geometrische Konstellationen aus Rechtecken,
balkenstarken Linien und Primärfarben reduzieren, dazu übergroße Lettern
seiner Typografie oder farbige Lamellen, die Raumabschlüsse strukturieren.
Da liegen formale Analogieschlüsse vielleicht nah. So stellen dann etwa die
Ausstellungsarchitektur oder die zweifelsfrei imposante neue Wandarbeit im
Lichtgraben eher künstlerische Unverfrorenheit unter Beweis.
## Eine neue Kunstrichtung
Die Ausstellung überzeugt dort, wo sie sich dokumentierend wie thematisch
erweiternd des historischen Phänomens El Lissitzky annimmt. Schön etwa,
dass nach der großen Retrospektive 1988 im Sprengel-Museum nun neuerlich
die Rekonstruktion eines frühen Proun-Raumes erlebt werden kann, eine
Leihgabe aus dem Van-Abbe-Museum in Eindhoven.
Bereits um 1920 hatte El Lissitzky, noch in Russland, seine eigene
Kunstrichtung angerissen: Proun (ausgesprochen Pro-un), die
„Umsteigestation“ von der Flächenkunst in die zweckfreie Architektur. Aus
dem niederländischen Haus stammen auch Nachbildungen der Figurinen,
Faksimiles wie Originale der Kestner-Mappen.
Dazu gesellen sich zeitgenössische Arbeiten, auch Unbekannteres wie die
kongenialen Kompositionen von Max Burchartz, der 1923 zeitgleich zu El
Lissitzky [4][in der Kestner-Gesellschaft ausgestellt] hatte. Und natürlich
fehlen weder Schwitters noch Moholy-Nagy noch zentrale Werke El Lissitzkys.
So grüßt sein Selbstbildnis, die Fotomontage mit dem locker in der Hand des
Künstlers liegenden Werkzeug des Konstrukteurs, dem Zirkel, als große
Reproduktion im Foyer.
Davor empfängt die aktuelle Version der Lichtinstallationen auf der
Fassade, vom britischen Duo John Wood und Paul Harrison: „words on the
front of a building“. Lakonischer Humor zeigt sich auch in zehn Schildern
auf dem gegenüberliegenden historischen Friedhof St. Nicolai sowie einem
erfrischenden Akzent in der El-Lissitzky-Weihe: sechs orangefarbenen
Plastikstühle.
Bis 1. 10., Hannover, Kestner Gesellschaft
30 Jul 2023
## LINKS
[1] /Neues-Konzept-fuers-Sprengel-Museum/!5930768
[2] /Ungarische-Avantgarde-in-Berlin/!5892937
[3] /Ausstellung-ueber-Zaertlichkeit/!5870418
[4] https://kestnergesellschaft.de/
## AUTOREN
Bettina Maria Brosowsky
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