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# taz.de -- Film über Dietrich Kuhlbrodt: Memoiren einer Rampensau
> Dem Hamburger Juristen, Filmkritiker und Gesamtkunstwerk Dietrich
> Kuhlbrodt hat Arne Körner einen Porträtfilm gewidmet. Passender Titel:
> „Nonkonform“.
Bild: Film ab: Dietrich Kuhlbrodt, Ex-Staatsanwalt, Filmkritiker, Schauspieler,…
Er verfolgte echte Naziverbrecher und trat in einem bundesdeutschen
Undergroundfilm als Reichspropagandaminister Joseph Goebbels auf. Er ist
promovierter Jurist und war Staatsanwalt und versteckte ein Jahr lang in
seinem Keller in Hamburg einen Afrikaner, dem die Abschiebung drohte. Er
bekam 1975 den Halsbandorden der Alliierten Widerstandskämpfer in Europa
und zerkaut Glas, wenn er mal wieder glaubt, seinen Geltungstrieb
befriedigen zu müssen: Dietrich Kuhlbrodt ist eine coole Socke, einer, dem
man stundenlang zuhören kann, wenn er aus seinem Leben erzählt.
Das fiel auch [1][Arne Körner] auf: Kuhlbrodt hat eine Kritik zu dessen
erstem Kinofilm „The Bicycle“ geschrieben – Filmkritiker ist er auch,
[2][auch für die taz hat er geschrieben] –, und die beiden hatten sich
angefreundet. In „Nonkonform“ lässt Körner Kuhlbrodt also reden – und d…
erzählt ganz wunderbar: anschaulich und analytisch, spannend und vor allem
sehr witzig.
Natürlich ist er ein Selbstdarsteller, ein Performer, der sowohl in seinem
[3][Brotjob als Staatsanwalt] wie auch bei seinen künstlerischen
Selbstverwirklichungen gelernt hat, einen großen Auftritt hinzulegen.
Erkennbar begeistert nimmt er die Gelegenheit war, endlich einmal in einer
Hauptrolle zu glänzen. Aber das kann er eben auch, und wenn er dabei ein
wenig an seinem eigenen Mythos bastelt, macht das seine Geschichten nur
besser.
Hat Regisseur Rainer Werner Fassbinder wirklich einst mit ihm geflirtet –
und ihm bei einem nächtlichen Gelage die „Rippchen“ von seinem Teller zum
Abkauen angeboten? Egal, gut erfunden ist es allemal. Dabei hat Kuhlbrodt
es gar nicht nötig zu flunkern, er hat so viel erlebt, dass er sich an
vieles kaum noch erinnern kann. „Stimmt, ich hab ja ein Drehbuch
geschrieben!“, sagt er kokett, als er auf seine Zusammenarbeit mit Werner
Schroeter bei dessen Film „Liebeskonzil“ (1982) angesprochen wird. Darin
ließ er eine Staatsanwältin auftreten, damals noch völlig unvorstellbar,
und Körner zeigt die passenden Ausschnitte mit einer juristisches
Kauderwelsch von sich gebenden Margit Carstensen.
Zu seinen ersten und prägenden Erinnerungen gehören für den 1932 geborenen
Kuhlbrodt die Bombenangriffe auf Hamburg im Jahr 1943. Für ihn war es
damals ein großes Abenteuer, nachts die Explosionen und die Leuchtspuren
der Flak am Himmel zu bewundern. Hier decken sich Kuhlbrodts Erinnerungen
übrigens mit denen des nur drei Monate jüngeren britischen Filmemachers
John Boorman: Der erzählt in seinem autobiografischen Film „Hope and Glory“
(1987) davon, dass das zerbombte London ihm als riesiger
Abenteuerspielplatz erschienen sei. Dies Art Spiegelung würde Kuhlbrodt
gefallen, so kinoverrückt wie er sich beschreibt, seit irgendwann die Oma
mit ihm im Schlepptau in einem Film mit Willy Birgel ging.
Auch dafür hat Körner den passenden Filmausschnitt gefunden. Überhaupt hat
er Kuhlbrodts geplauderte Memoiren sehr sorgfältig und durchaus aufwendig
illustriert; das Archivmaterial wurde in der Postproduktion dann auch noch
einfallsreich bearbeitet und verfremdet. Zu den Kriegserinnerungen des
jungen Kuhlbrodt laufen die Bilder dann schon mal rückwärts, oder Körner
zeigt sie als „farbenverkehrte“, inverse Negative.
Körner hat sich ganz offensichtlich bemüht, dem Filmkritiker Kuhlbrodt auch
filmisch gerecht zu werden – so lässt er die Kamera auch mal kreiseln,
während Kuhlbrodt davon erzählt, wie ihm bei seinem ersten Auftritt als
Staatsanwalt vor einem Gericht schwindelig wurde.
Ein geschickter Zug Körners war es, Helge Schneider die Filmmusik besorgen
zu lassen: Der hat auf Piano, Bass, Saxofon, Orgel, Schlagzeug und
Werweißnochwas einen flotten Jazzscore eingespielt, der wunderbar passt zur
übermütig spielfreudigen Persönlichkeit des Protagonisten.
Kuhlbrodt war als junger linker Staatsanwalt bei den alten Herren um ihn
herum verhasst, im Film erzählt er nun auch davon, mit welch raffinierten
Mitteln der Justizapparat ihn kaltstellte. So wurde er in den 1960er-Jahren
an die zentrale [4][Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer
Verbrechen im badischen Ludwigsburg] berufen, die sich aber als eine
juristische Alibi-Institution entpuppte: Den dort tätigen Staatsanwälten
war es untersagt, gegen Naziverbrecher auch Anklage zu erheben.
Ähnlich absurd war der Grund dafür, dass ein von Kuhlbrodt angestrengter
„Euthanasie“-Prozess platzte: Die Verteidigung plädierte auf
Prozessunfähigkeit des Angeklagten, eines hochrangigen Hamburger Beamten,
weil dieser sich derart über die Anklageschrift aufgeregt habe, dass er sie
nicht zu Ende habe lesen können. Dass der vom Gericht bestellte Gutachter
ein alter Kollege eben dieses Angeklagten war, fand Kuhlbrodt dann erst zu
spät heraus.
Erfolgreicher war er als [5][Nebendarsteller in den Filmen von Christoph
Schlingensief], für den er 1998 in „Das deutsche Kettensägenmassaker“ Oss…
zu Wurst verarbeitete. Bei Schlingensief improvisierte er auch auf der
Theaterbühne, für seine „Partei 2000“ zog er als Vorstandsmitglied in den
Wahlkampf der Bundestagswahl 1998.
Wie schillernd Kuhlbrodts Persönlichkeit bis heute ist, wird dann bei einer
Besichtigung seines kleinen Hauses im Elbvorort Blankenese deutlich: Wir
erfahren, dass der Hausherr gern Micky-Maus-Hefte liest, während sein
Lieblings-Plüschtier Wauwi im eigenen Bettchen schläft. Wir sehen ihn in
Unterwäsche, und zum Schluss zerbeißt der 92-Jährige ein Sektglas. Er ist
eben noch immer eine Rampensau.
6 Feb 2025
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## AUTOREN
Wilfried Hippen
## TAGS
Hamburg
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Deutsche Geschichte
Schwerpunkt Nationalsozialismus
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