| # taz.de -- Suchtmittel in Deutschland: 10 Prozent der Deutschen brauchen konst… | |
| > Viele Deutsche halten die Realität nicht aus, ohne sich regelmäßig | |
| > auszuschalten. Gibt es nicht genug nachvollziehbare Gründe für die | |
| > Weltflucht? | |
| Bild: Alkohol, eine legale Droge, um nicht an der Welt mit all ihren Grausamkei… | |
| Sucht ist keine bloße Krankheit. Sucht ist auch das Produkt von | |
| Verhältnissen, die für viele Menschen nicht mehr auszuhalten sind. | |
| Angesichts einer immer grausameren Gegenwart, in der sich Oligarchen | |
| vermehrt in die Politik einmischen, der Planet und seine Ressourcen | |
| rücksichtslos ausgepumpt werden, arme Menschen auf sich gestellt sind und | |
| man sich eigentlich keine utopische Zukunft mehr vorstellen kann, ist es | |
| nur logisch, dass es Menschen gibt, die es nicht aushalten, bei vollem | |
| Bewusstsein an dieser Realität teilzunehmen. Sie müssen verdrängen. Beweis | |
| dafür sind neue Zahlen. | |
| Jede_r zehnte in Deutschland, so schreibt die [1][Deutsche Hauptstelle für | |
| Suchtfragen (DHS)], habe ein Suchtproblem. Jede_r zehnte, das sind [2][8,2 | |
| Millionen Menschen]. Ein noch größerer Anteil, nämlich 13 Millionen, | |
| konsumiere seine Mittelchen, ob Alkohol, Tabak, Medikamente oder Gras, | |
| missbräuchlich. | |
| Sicherlich gibt es Überschneidungen bei den Substanzen – bekanntlich | |
| schmecken Zigaretten besser, wenn man ein paar Gläser Wein intus hat, und | |
| Gras brauchen oft die, die vom Koks zu hibbelig sind, um einzuschlafen. | |
| Doch [3][jedes Suchtmittel hat seinen speziellen Charakter]. | |
| Tabak ist von allen Drogen vielleicht diejenige, die den größten | |
| Verdrängungswillen erfordert: Denn [4][Tabak ist nicht nur absolut | |
| tödlich], sondern auch gesellschaftlich akzeptiert und romantisiert. Sich | |
| ständig einzureden, dass man sich bei dieser suizidalen Raucherei – das | |
| sage ich als On-off-Raucherin – was Gutes tue, einen Moment für sich nehme, | |
| ja auch eine gewisse Geselligkeit herstelle, zeugt davon, welchen Kraftakt | |
| im Verdrängen das Rauchen erfordert. | |
| ## Bald das große Geld? | |
| Mit jedem Zug schüttet der Körper Dopamin aus, man entspannt sich, wird | |
| stressfrei und gleichzeitig stimuliert. Das tut gut. 4,4 Millionen Menschen | |
| gelingt diese Realitätsflucht. Die Zigarette ist die Verkörperung der | |
| Irrationalität. | |
| Nicht ganz so viele, nämlich 1,3 Millionen Deutsche, sind | |
| [5][glücksspielabhängig]. Sie verschulden sich etwa bei Automatenspielen, | |
| [6][Sportwetten] oder Online-Casinos, spielen auf pathologische Art und | |
| Weise, können nicht aufhören. Die Realitätsflucht besteht einerseits im | |
| rauschartigen Spiel selbst, das sämtliche Knöpfe im Hirn betätigt, und | |
| andererseits darin, sich einzureden, bald das große Geld zu gewinnen. | |
| Die fiesen Reichen kann man ignorieren, seine Lebensrealität muss man nicht | |
| in politische Forderungen übersetzen, die eigene Unterdrückung, wenn es | |
| diese gibt, ist egal. Denn bald ist man ja selbst ganz oben. | |
| ## Eine geheime Verzweiflung | |
| Dann gibt es noch die offensichtlichen Drogen. Legale wie Alkohol (1,6 | |
| Millionen Deutsche sind danach süchtig) oder Gras (300.000) und verbotene | |
| harte Drogen wie Crack, Heroin, Koks, Fentanyl (insgesamt etwa 150.000) – | |
| oder Medikamente (1,8 Millionen). | |
| Abgesehen davon, dass [7][Menschen, die in ihrer Kindheit Traumata erlebt | |
| haben, sich später besonders empfänglich für Drogenmissbrauch] zeigen, sind | |
| diese Drogen auch das effektivste Mittel, nicht an der Welt mit all ihren | |
| Grausamkeiten teilzuhaben. Die Drogen wirken sich am drastischsten auf den | |
| physischen oder psychischen Zustand aus, es endet immer häufiger in der | |
| absoluten Flucht, dem Tod. | |
| Wenn mindestens 10 Prozent der Deutschen eine konstante Betäubung in | |
| welcher Form auch immer benötigen, um bloß nicht zu stark wahrzunehmen, was | |
| da außerhalb der eigenen körperlichen Grenzen geschieht, kann das keine | |
| bloße Krankheit sein. Es ist auch eine geheime Verzweiflung. | |
| ## 21 Prozent wählen die destruktivste Droge | |
| Die sogenannte [8][Doomsday-Clock steht laut dem Bulletin for Atomic | |
| Scientists] bei 89 Sekunden vor Mitternacht, vor einem „globalen Desaster“. | |
| Die DHS fordert vor der Bundestagswahl richtigerweise, dass Menschen mit | |
| Süchten adäquate Hilfe bekommen. Doch man darf auch Größeres fordern: eine | |
| Welt, die nüchtern auszuhalten ist. | |
| Tut sich nämlich nichts, greifen laut Umfragen mindestens 21 Prozent zu | |
| einer noch destruktiveren Droge: Die Wahl einer rechtsextremen Partei. Die | |
| [9][AfD] ermöglicht die ultimative Realitätsflucht; zurück in eine Welt mit | |
| Verbrennern, mit Atomkraft, zurück in eine Welt, in der Minderheiten noch | |
| unterdrückter sind, zurück zu einem traditionellen Frauen- und Familienbild | |
| (was auch immer das bedeuten mag), zurück in prä-EU – oder in noch deutlich | |
| finsterere Zeiten. | |
| Wähler_innen der Rechtsextremen betäuben sich mit der Hoffnung, als | |
| Gewinner dieser gruseligen Zeitreise davonzukommen. Was am Ende wie die | |
| Qualmerei nicht nur ihm selbst schadet – sondern allen, die er durch seine | |
| Entscheidung mit in Haftung nimmt. | |
| 29 Jan 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.dhs.de/ | |
| [2] https://www.bundesdrogenbeauftragter.de/themen/suchtstoffe-und-suchtformen/ | |
| [3] https://datenportal.bundesdrogenbeauftragter.de/ | |
| [4] /Tabakkonsum/!6061880 | |
| [5] /Spielsucht-in-Deutschland/!5969563 | |
| [6] /Gluecksspielsucht-bei-Fussballprofis/!6056510 | |
| [7] https://nida.nih.gov/research-topics/trauma-and-stress | |
| [8] https://thebulletin.org/doomsday-clock/ | |
| [9] /AfD-Wahlkampfauftakt-in-Halle/!6064728 | |
| ## AUTOREN | |
| Valérie Catil | |
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