# taz.de -- Drogenmissbrauch in Berlin: „Stärkere soziale Verelendung“ | |
> Mit 271 Drogentodesfällen verzeichnet Berlin einen neuen Höchststand. | |
> Stefan Wiedemann von der Drogenberatungsstelle Vista über die Situation | |
> im Wrangelkiez und am Leopoldplatz. | |
Bild: Die Zahl der verstorbenen Drogenkonsumenten*innen sei keine überraschend… | |
taz: Herr Wiedemann, am Montag findet eine Gedenkveranstaltung für Menschen | |
statt, die im Zusammenhang mit Drogenkonsum gestorben sind. Mit 271 | |
Drogentodesfällen im Vorjahr verzeichnet Berlin einen Höchststand. Haben | |
Sie dafür eine Erklärung? | |
Stefan Wiedemann: Die Berliner Zahlen decken sich mit dem Bundestrend. | |
2.237 Todesfälle im Bund, auch das ist ein neuer Höchststand. Aber das ist | |
keine überraschende Entwicklung, die Zahlen steigen seit Jahren. | |
Was hat sich verändert? | |
Es gibt Veränderungen, was die konsumierten Substanzen betrifft, die bei | |
den Verstorbenen nachgewiesen wurden. Früher waren das im Wesentlichen | |
ausschließlich Opiate … | |
… also Heroin. | |
Mittlerweile spielen auch andere Substanzen eine Rolle. In Berlin | |
beobachten wir einen Anstieg bei dem [1][Konsum von Crack]. Außerdem | |
besorgen uns synthetische Opioide wie Fentanyl, die in den USA sehr stark | |
konsumiert werden. Noch konnten wir aber nicht feststellen, dass sich der | |
hiesige Opiatmarkt dahingehend umgestellt hat. | |
Was wissen Sie über die Situation der Menschen, die in Berlin gestorben | |
sind? | |
Allgemein kann man sagen, dass sie im stärkeren Maße sozial verelendet | |
sind. Wohnungslosigkeit spielt gerade in Berlin im Vergleich zu den | |
Vorjahren eine sehr große Rolle. Sie leben prekär auf der Straße unter | |
entsprechenden schlechten Bedingungen. | |
Sterben diese Menschen oft in U-Bahnhöfen oder Hausfluren? | |
Die Auffindeorte sind breit gestreut. Es handelt sich um den öffentlichen | |
Raum, in vielen Fällen aber auch um den eigenen Wohnraum. Was wir sicher | |
sagen können: [2][Die Todesfälle passieren nicht in Drogenkonsumräumen.] | |
Das ist eine sehr gute Nachricht. Deshalb sehen wir die Konsumräume auch | |
als eine gangbare Safer-use-Strategie an. Dass die Leute dort sicher | |
konsumieren können. Aber die Konsumräume sind natürlich nicht immer | |
geöffnet und nicht alle Leute nutzen sie. | |
Was gibt es noch für Erkenntnisse? | |
[3][Gerade im niedrigschwelligen Bereich stellen wir eine Zunahme von | |
Menschen fest,] die nicht kranken- und sozialversichert sind. Stichwort: | |
Zuwanderung aus dem vorwiegend osteuropäischen Raum, EU-Bürger, die keinen | |
Versicherungsschutz haben. Lebensrettende Maßnahmen wie eine | |
Substitutionsbehandlung steht ihnen nur eingeschränkt zur Verfügung. | |
Im [4][Wrangelkiez in Kreuzberg] und am Leopoldplatz in Wedding häufen sich | |
die Klagen aus der Anwohnerschaft über eine zunehmend verelendete | |
Drogenszene. Gibt es Maßnahmen, mit denen sich die Situation entschärfen | |
ließe? | |
Eine ganz wichtige Maßnahme ist der Erhalt und Ausbau der | |
niedrigschwelligen Maßnahmen. | |
Drogenkonsumräume und -mobile gibt es in Berlin aber schon einige. | |
Konzeptionell ist das Land Berlin schon gut aufgestellt, das ist richtig. | |
Aber die Angebote müssen erhalten und zumindest, was die Öffnungszeiten | |
betrifft, ausgebaut werden. Das sage ich auch in Hinblick auf die | |
Spardiskussion, die im nächsten Jahr ansteht. Das macht uns natürlich | |
Sorgen. | |
Gäbe es denn genug Personal, um die Öffnungszeiten zu erweitern? | |
Auch wir leiden unter [5][dem allgemeinen Fachkräftemangel]. Im Moment | |
gelingt es uns noch, Personal zu finden, im Bereich der Pflegekräfte, die | |
wir neben den Sozialarbeitenden in den Drogenkonsumräumen beschäftigen, ist | |
das aber zunehmend schwierig. Nichtsdestotrotz würden wir uns bemühen, die | |
Öffnungszeiten auszuweiten. Die Voraussetzung wäre aber, dass uns dafür | |
entsprechende Mittel zur Verfügung gestellt werden. | |
Nicht alles ist eine Frage des Geldes. Für das Kottbusser Tor zum Beispiel | |
gab es gerade 250.000 Euro Sondermittel vom Senat. Trotzdem nehmen die | |
Klagen der Anwohner zu. Was läuft da schief? | |
Die Situation ist nicht plötzlich explodiert. Das ist eine kontinuierliche | |
und absehbare Entwicklung. Was sich aber verändert, ist die Wahrnehmung der | |
Umgebung. | |
Vielleicht sind die Leute mit ihrer Geduld am Ende. | |
Das kann so sein, das finde ich nachvollziehbar. Man darf aber nicht | |
vergessen, dass sich auch die entsprechenden Kieze verändern. Auch am | |
Leopoldplatz hat sich die Bevölkerungsstruktur durch Gentrifizierung | |
geändert. | |
Wollen Sie damit sagen, dass die frühere Anwohnerschaft toleranter war? | |
Das ist eine Mischung aus vielem. Am Leopoldplatz ist die Belastung über | |
viele Jahre größer geworden, das ist sicher ein wesentlicher Faktor. Es hat | |
aber auch damit zu tun, dass bürgerliche Menschen sich vielleicht | |
schlagkräftiger äußern können. Was völlig in Ordnung ist. | |
Im Wrangelkiez gibt es Menschen, die dort schon seit Jahrzehnten leben und | |
von unzumutbaren Zuständen sprechen. | |
Ich wohne selbst im Wrangelkiez und kann sagen: Die Entwicklung ist nicht | |
plötzlich eingetreten. | |
Das tröstet aber keinen. | |
Der entscheidende Faktor ist, dass viel mehr drogenabhängige Menschen als | |
früher kein Dach mehr über dem Kopf haben und deshalb in der Öffentlichkeit | |
viel sichtbarer werden. Trotzdem muss man differenzieren. [6][Im | |
Wrangelkiez konnte man beobachten, dass mit jedem Versuch der | |
Ordnungskräfte, stärker durchzugreifen, die Problem in den umliegenden | |
Straßen größer geworden sind]. Damit will ich nicht sagen, dass jemand | |
nicht berechtigt ist, das als belastend zu empfinden. | |
Also was könnte helfen? | |
Was wirklich helfen würde, wäre Angebote zu niedrigschwelligen | |
Substitutionen zu schaffen. Den ganz einfachen Zugang zu | |
Methadon-Programmen zu schaffen auch für Menschen, die nicht versichert | |
sind. | |
22 Jul 2024 | |
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## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
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