# taz.de -- Die Wahrheit: Schmackhaft wie Darth Vader | |
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (210): Asseln gelten als | |
> eklig und schmutzig, sind aber eigentlich untadelig gepflegt. | |
Bild: Keine Kellerassel, sondern die Arktische Meeresassel, die der Klimawandel… | |
Im Berliner U-Bahn-Fernsehen las ich die Schlagzeile „Riesenassel im Meer | |
entdeckt“. Als ich den taz-Computer anstellte und in der Suchmaschine | |
„Riesenassel“ eingab, zeigte sie bereits 96.000 Eintragungen dazu an. | |
Riesenmeerasseln sind schon lange bekannt und eine Delikatesse in China. | |
Sie sollen besser als Hummer schmecken. Die neue, bisher noch unbekannte | |
Riesenassel fanden die Forscher auf einem Fischmarkt, wo diese Tiere lebend | |
verkauft werden. Sie gaben ihr den Artnamen „Bathynomus vaderi“ – das | |
Bathyal ist der lichtarme Bereich des Meeres zwischen 200 und 4.000 Meter | |
Tiefe, und mit „vaderi“ ist Darth Vader gemeint, weil ihr Kopf sie an den | |
Sith-Lord aus „Star Wars“ erinnerte. Die Riesenassel ist fast 30 Zentimeter | |
lang, hat 14 Beine und wiegt mehr als ein Kilogramm. Damit ist sie etwa | |
20-mal so groß wie eine Kellerassel, um die es mir eigentlich in diesem | |
Text geht. | |
Aber man kann locker von der einen zur anderen Assel kommen: Beides sind | |
Krebse, und die Kellerassel eroberte vor etwa 160 Millionen Jahren das | |
Land, wo es sie heute weltweit gibt, in 3.500 Arten. Asseln bilden „die | |
ökologisch vielfältigste Gruppe der Krebse“, schreibt der Krebsforscher | |
Heinz-Dieter Franke (in „Kleine rote Fische, die rückwärts gehen“, 2024). | |
Die Weibchen der Landasseln produzieren nicht wie die meisten Krebse viele | |
kleine Eier, aus denen dann Schwimmlarven werden, die „frühzeitig auf sich | |
allein gestellt sind“, sondern nur wenige große Eier, die sie im Brutraum | |
auf der Bauchseite ablegen. Dort sind die Embryonen vor Austrocknung und | |
Infektionen geschützt, zudem versorgt das Muttertier sie mit Sauerstoff und | |
Salzen. | |
## Einzigartiges Wasserleitsystem | |
Laut Franke haben die Landasseln zwar „lungenähnliche Organe“ entwickelt | |
(„Hohlräume in den vorderen Beinpaaren“, nennt sie biologie-schule.de). | |
Daneben haben sie aber auch die ursprüngliche Atmung über Kiemen | |
beibehalten, deren Oberfläche nass gehalten werden muss. Dazu entwickelten | |
sie ein „einzigartiges Wasserleitsystem in der Körperoberfläche“, mit dem | |
sie winzigste Wassermengen aus der Umgebung aufnehmen und an die Kiemen | |
weiterleiten können. | |
Die Landasseln siedeln in feuchten „Kleinstlebensräumen“ und ernähren sich | |
von verrottenden pflanzlichen Substanzen. „Sie fressen sogar ihren eigenen | |
Kot und dünsten ihren Urin in Form von Ammoniak-Gas aus,“ schreibt die | |
Zeit. | |
Als „Primärzersetzer“ bringen sie die Humusbildung in Gang – und machen | |
sich damit nützlich. Zudem kommen sie gut mit „Umweltgiften aller Art“ | |
zurecht, selbst verstrahlte Gebiete nach Reaktorunfällen lassen sie kalt, | |
und sie sind „in besonderem Maße immun gegenüber Infektionen“. | |
Asseln haben ein ähnlich aussehendes Exoskelett wie die Panzer von | |
Gürteltieren, mit dem einige Arten sich wie diese bei Gefahr zu einer Kugel | |
zusammenkrümmen können. Man nennt sie deswegen „Kugelasseln“ | |
(Armadillidiidae), meine Eltern nannten sie „Kellerasseln“ | |
(Porcellionidae): In unserer Wohnung besaßen wir ein großes Beet mit | |
Zierpflanzen, das mit Ziegelsteinen eingefasst war. Die Steine hatten | |
kleine eckige Löcher, und in denen lebten Kellerasseln – Tausende (sie sind | |
sehr gesellig). Dort war es warm und feucht. Man sah diese harmlosen | |
kleinen Tiere aber nie, die als Kugel so groß wie Liebesperlen sind, wenn | |
auch nicht so schmackhaft. Für Kröten, Maulwürfe etc. allerdings schon. | |
In Frankes Krebsbuch heißt es: Sie können dort, „wo der Mensch ihnen dazu | |
Gelegenheit bietet, auch lebende Gewebe [von Pflanzen] schädigen“. In | |
Gewächshäusern oder Vorratslagern „kann es zu einer Massenvermehrung der | |
Tiere kommen, die Bekämpfungsmaßnahmen notwendig macht.“ Unsere Asselmassen | |
haben nie eine Pflanze geschädigt, aber ungefähr einmal im Jahr wurde es | |
ihnen in den Ziegelsteinlöchern zu eng und ihre Jungen zogen aus, um neuen | |
Lebensraum zu finden. Sie hätten in der zentralheizungstrockenen Luft zwar | |
nicht lange überlebt, wir bekämpften diese Asselinvasionen aber trotzdem, | |
indem wir die ausschwärmenden Tiere jedes Mal leicht hysterisch tottraten, | |
dann zusammenfegten und im Klo entsorgten. | |
Franke schreibt, dass sie auch unsere Wasserleitungssysteme besiedeln, was | |
kaum zu vermeiden sei: Sie klammern sich an „die geringsten Unebenheiten | |
der Rohrwände […] bei einem massenhaften Auftreten der Tiere besteht der | |
aus dem Wasserhahn kommende (oft euphemistisch als ‚Rostablagerung‘ | |
angesprochene) Mulm hauptsächlich aus dem Kot von Asseln.“ Vor allem das | |
Trinkwasser aus Talsperren oder Flüssen enthalte organische Schwebstoffe. | |
„Diese bilden die Nahrungsgrundlage von Bakterien und Pilzen, die an den | |
Rohrwänden einen sogenannten Biofilm bilden“, von dem die Asseln leben. | |
Daneben erwähnt Franke noch die im Meer lebenden Bohrasseln, die von Holz | |
leben. Anders als Termiten können sie das Holz ohne symbiotische | |
Mikroorganismen in ihrem Magen-Darm-Trakt verdauen. Mit ihrer Bohrtätigkeit | |
gefährden sie Holzschiffe und hölzerne Hafenanlagen. | |
Der Krebsforscher zählt überdies noch einige Asseln im Kulturbetrieb auf: | |
„Dicke geschäftige Kellerasseln von Krämern“ – wie der Kulturphilosoph … | |
Friedell den Menschentypus des Börsenzeitalters abfällig nannte. Dann die | |
„Kellerasselkunst“ (cloportism), als die der Schriftsteller Joris-Karl | |
Huysmans „die angeblich-engstirnige literarische Schule des Naturalismus“ | |
bezeichnete (zu der auch er zählt). | |
Außerdem die „Geschichte zweier Kellerasseln“ – wie Gustave Flaubert sei… | |
letzten Roman betiteln wollte, der dann unter den Namen seiner zwei | |
Protagonisten als „Bouvard et Pécuchet“ erschien. Diese beiden Kleinbürger | |
waren entschlossen, sich „fast jeder der damaligen Wissenschaften zu | |
widmen“. Der irische Schriftsteller und Satiriker Jonathan Swift nannte | |
pauschal gleich sämtliche Engländer Kellerasseln (woodlice). | |
Eine weitere Kellerassel erkennt Franke in Franz Kafkas Erzählung „Die | |
Verwandlung“. Darin geht es um einen Mann, Gregor Samsa, der eines Morgens | |
aufwacht und sich über Nacht in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt hat. | |
In diesem Tier fand Franke eine Reihe von Merkmalen, die ihn vermuten | |
lassen, dass es sich dabei um eine Riesenlandassel handelt, unter anderem | |
weil Gregor Samsa von Kafka als vielbeinig beschrieben wird und weil es ihn | |
„nach typischer Art der Asseln in die Dunkelheit und zu faulender Nahrung“ | |
zieht, was von seinen Mitbewohnern als „eklig“ empfunden wird. | |
Dabei lassen sich die Landasseln laut Heinz-Dieter Franke in puncto | |
Sauberkeit kaum übertreffen – obwohl sie in Mulm und Abfällen leben: „Mit | |
einer selbstreinigenden Oberfläche, auf der nichts zu haften scheint, | |
treten uns die Tiere stets untadelig gepflegt gegenüber.“ | |
27 Jan 2025 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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