Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Politische Verantwortung: Jenseits der Scheindebatte
> Nach der Messerattacke von Aschaffenburg geht es vor allem um
> Abschiebungen. Doch wer kümmert sich um Prävention?
Bild: Vor dem „Blauen Klavier“ im Park Schöntal in Aschaffenburg
Berlin taz | Während Aschaffenburg trauert, diskutieren die Regierungen in
Berlin und München über Migration. Nach der tödlichen Messerattacke vom
Mittwoch schiebt man sich gegenseitig die Schuld dafür zu, dass der
mutmaßliche Täter Enamullah O. 2023 nicht rechtzeitig nach Bulgarien
ausgewiesen wurde. Dort hatte er zuerst EU-Boden betreten.
Unstrittig ist, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf)
mehrere Monate brauchte, um die bayerischen Behörden zu informieren, dass
Bulgarien den Mann zurücknehmen wollte. Bayerns Innenminister Joachim
Herrmann (CSU) sagte, seinen Behörden seien dann nur noch wenige Tage
verblieben, um den Mann fristgerecht abzuschieben. Ein Sprecher des
Bundesinnenministeriums sagte dagegen, es seien noch volle sieben Wochen
Zeit gewesen.
Der Mann wurde jedenfalls nicht abgeschoben, für seinen Asylantrag war
deshalb Deutschland verantwortlich. Bearbeitet wurde er bis Ende 2024, als
der Mann ihn von sich aus zurückzog und seine freiwillige Ausreise
ankündigte. Wohl auch, weil er die dafür nötigen Papiere vom afghanischen
Generalkonsulat nicht erhalten hatte.
Diskutiert wird jetzt über die psychische Verfasstheit O.s. Der 28-Jährige
wurde am Donnerstagabend in eine Psychiatrie eingewiesen. Bayerns
Innenminister Herrmann sprach von Hinweisen auf eine paranoide
Schizophrenie. Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat als einzige
Maßnahme angekündigt, Regelungen für die Einweisung in Psychiatrien
„härten“ zu wollen.
## „Das ist doch keine Asylfrage“
Der Co-Vorsitzende der Linkspartei, Jan van Aken, kritisierte, dass der
psychische Zustand des mutmaßlichen Täters so wenig Aufmerksamkeit erhält:
„Das ist doch keine Asylfrage. Das ist doch eine Frage, wie gehen wir mit
psychisch kranken Gewalttätern um.“
Auch Flüchtlingsorganisationen fordern, [1][psychologische
Beratungsangebote für Geflüchtete zu stärken]. „Nur eine frühzeitige
Diagnostik und angemessene psychiatrische und psychosoziale Versorgung
können Attentaten wie diesen in Aschaffenburg vorbeugen“, sagte Jana
Weidhaase, Sprecherin des Bayerischen Flüchtlingsrats.
Bundesweit wurden die Mittel für psychologische Beratungsangebote für
Geflüchtete in letzter Zeit jedoch um etwa die Hälfte gekürzt. Dabei leiden
bis zu einem Drittel aller Geflüchteten an posttraumatischen
Belastungsstörungen. Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und
Psychologen (BDP) hatte im September mitgeteilt, dass nur 3 Prozent der
Asylbewerber*innen derzeit die psychologische Betreuung erhalten, die
sie brauchen.
Gleichzeitig betonen Expert*innen, dass traumatisierte oder depressive
Personen fast nie gewalttätig würden. Besonders schwere Krankheiten wie
Schizophrenie seien viel seltener. Menschen, die unter solchen Krankheiten
leiden, würden tatsächlich signifikant öfter gewalttätig als der
Durchschnitt. Das bedeute im Umkehrschluss aber nicht, dass alle psychisch
kranken Menschen gewalttätig seien.
## Der Fall fügt sich in ein Muster ein
Der mutmaßliche Täter von Aschaffenburg war den Behörden schon vor der
Messerattacke bekannt. Gegen ihn liefen mehrere Verfahren. Einmal soll er
unter Cannabiseinfluss in einem Polizeirevier eine Polizistin geschlagen
und einem anderen Beamten nach dem Pistolenholster gegriffen haben. Andere
Male soll er sich am Bahnhof Aschaffenburg vor zwei Polizisten entkleidet
oder in einem Krankenwagen einen Sanitäter und Polizisten getreten haben.
Schon 2023 soll er zudem in einem Ankerzentrum einen anderen Bewohner
angegriffen haben.
Eine Zeugin berichtete auch von einem Angriff mit einem Messer. Nach zwei
Vorfällen im Mai und August 2024 war er kurzzeitig in psychiatrischen
Einrichtungen untergebracht. In keinem Fall hätten die Voraussetzungen für
einen Haftbefehl oder die längerfristige Unterbringung in einer Psychiatrie
vorgelegen, sagt die Staatsanwaltschaft Aschaffenburg.
Der Fall fügt sich in ein Muster ein. Auch der mutmaßliche Täter von
[2][Magdeburg, der im Dezember in einen Weihnachtsmarkt fuhr und sechs
Menschen tötete], war psychisch auffällig. Bei Gewalttaten in Brokstedt,
Berlin, Würzburg oder Trier war es ähnlich. Schon 2020 setzte die
Innenministerkonferenz (IMK) deshalb eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe ein, um
Indikatoren für eine Früherkennung von Amokläufern oder Attentätern zu
finden. Die Gruppe legte 2023 einen internen Bericht vor, ein
Abschlussbericht soll in diesem Jahr veröffentlicht werden.
Auch bei der jüngsten IMK stand das Thema wieder auf der Tagesordnung –
erneut, ohne dass sich die Minister*innen auf konkrete Maßnahmen
einigten. Brandenburgs damaliger Innenminister Michael Stübgen (CDU) verlor
deshalb die Geduld. Die Zahl „herausragender schwerster Gewaltstraftaten
durch Personen mit psychischen Erkrankungen“ nehme seit Jahren zu, es gebe
einen „erhöhten Handlungsdruck“, erklärte er laut einer Protokollnotiz. B…
heute gebe es nur in wenigen Bundesländern Konzepte für ein „einheitliches
Bedrohungsmanagement“. Es brauche hier einen „notwendigen Impuls, um
bestehende Defizite zu überwinden“.
## Vorbild Nordrhein-Westfalen
Das Bundeskriminalamt (BKA) führte 2016 zumindest für terroristische
Gefährder ein System zur Risikobewertung ein. Anhand eines Fragebogens
werden Gewaltneigungen oder soziale Bindungen eines Gefährders geprüft,
um schwere Straftaten zu antizipieren. Auf Personen, die nicht politisch
auffällig sind, wird das System bisher nicht angewandt.
BKA-Chef Holger Münch erklärte nach dem Magdeburg-Attentat hinter den
verschlossenen Türen des Innenausschusses im Bundestag, die Aufgabe sei
„nicht trivial“: Man könne auch schnell falsche Indikatoren finden und rede
über eine „extrem hohe“ Zahl von auffälligen Personen, zu denen es zumeist
nur lückenhafte Informationen gebe. Das Ziel sei, ein System aus
polizeilichen Erfahrungswerten und wissenschaftlich fundierten
Risikofaktoren zu entwickeln.
In Nordrhein-Westfalen wird dafür bereits seit 2022 das Projekt „Periskop“
von allen Polizeibehörden genutzt, das psychisch auffällige Personen
aufspüren soll, die schwerste Gewalttaten begehen könnten. Die Annahme:
Oftmals offenbaren Täter im Vorfeld ihre Gewaltabsichten, im Alltag oder
online.
Erhalten Polizei oder Behörden solche Hinweise, werden zu den Personen
Prüffälle angelegt. Die Polizei berät dann mit Gesundheits- oder
Ausländerbehörden, mit Psychiatrien oder Sozialarbeiter*innen, welche
Maßnahmen die Person „stabilisieren“ können. Insgesamt 7.431 Fälle seien
inzwischen bearbeitet worden, sagte ein Sprecher des NRW-Innenministers
Herbert Reul (CDU) der taz. Aktuell seien 362 Personen „mit
Risikopotenzial“ eingestuft gewesen. Auch mit dem Programm habe man keine
hundertprozentige Sicherheit, sagte Reul zum Projektstart. Aber ein
Pilotversuch habe sich „mehr als bewährt“, um Verdachtsfälle zu erkennen.
Kritik, dass psychisch Erkrankte stigmatisiert werden könnten, wies Reul
zurück.
In den meisten anderen Bundesländern fehlen solche Projekte bis heute,
obwohl Expert*innen schon länger bundesweite Programme zur Früherkennung
fordern, einen besseren Behördenaustausch – und deutlich mehr Personal in
psychiatrischen Ambulanzen.
Ein Sprecher des bayerischen Innenministeriums betonte gegenüber der taz,
dass es in Bayern bereits seit Ende 2021 ein Konzept zur Risikoanalyse gebe
und eine eigene Servicestelle beim LKA. Gut 100 Personen mit psychischen
Auffälligkeiten seien seitdem behördenübergreifend bearbeitet worden. Nur:
Enamullah O. war nicht dabei.
24 Jan 2025
## LINKS
[1] /Traumareferentin-zu-Aschaffenburg/!6064606
[2] /Anschlag-in-Magdeburg/!6059951
## AUTOREN
Frederik Eikmanns
Konrad Litschko
## TAGS
Aschaffenburg
Migration
Prävention
GNS
Psychische Erkrankungen
Social-Auswahl
Emanzipation
Friedrich Merz
Messerangriff
Anschlag in Magdeburg
## ARTIKEL ZUM THEMA
Gedenkfeiern für alle: Braucht es christliche Federführung?
Nach Anschlägen und Katastrophen wird der Opfer im kirchlichen Rahmen
gedacht. Mit Kirche haben die aber oft nichts zu tun. Zeit für säkulare
Gedenkfeiern!
Merz’ Anbiederung an die AfD: Das war’s mit der Brandmauer
Merz ist es „gleichgültig“, mit wem er Migrationsgesetze beschließt. Er
beklagt den Kontrollverlust des Staates und verliert die Kontrolle über
sich.
Zwei Tote und zwei Verletzte: Entsetzen nach Messerattacke auf Kinder in Aschaf…
In Aschaffenburg hat ein Mann ein Kind und einen Mann erstochen. Der Täter
soll Afghane sein, die Polizei durchsuchte eine Flüchtlingsunterkunft.
Anschlag auf Weihnachtsmarkt: Magdeburg-Täter suchte Kontakt zur AfD-Jugend
Die AfD instrumentalisiert den Angriff auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt.
Dabei war der Täter ein Partei-Sympathisant – und suchte auch Kontakt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.