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# taz.de -- Arzthelfer über seine Ausbildung: „Guten Morgen, meine Damen“
> Veli Çağıllıgeçit kam 1979 aus der Türkei nach Deutschland und ließ si…
> zum Arzthelfer ausbilden. Als erster Mann in Berlin – allein unter
> Frauen.
Bild: Pionier im Job: Veli Çağıllıgeçit war Berlins erster männlicher Arz…
taz: Herr Çağıllıgeçit, Sie haben sich vor 40 Jahren in Berlin zum ersten
männlichen Arzthelfer ausbilden lassen. Wie kam es dazu?
Veli Çağıllıgeçit: Damals war ich schon fünf Jahre in Deutschland und
wollte endlich einen richtigen Beruf lernen. Ich hatte auch die Hoffnung,
durch die Ausbildung mein Deutsch zu verbessern – meine deutschen Sätze
klangen früher noch sehr abenteuerlich. Das war auch der Grund, warum ich
mein Geld mit einfachen Arbeiten verdient habe. Ich putzte in einer Küche
und sortierte in einer Schnapsfabrik Flaschen am Fließband aus. Dort
beschloss ich irgendwann: Ich möchte keiner Arbeit mehr nachgehen, bei der
ich nicht denken muss. So „nutzte ich die Gelegenheit, die ich in der Hand
hatte“, wie wir auf Türkisch sagen, und stellte mich 1984 in einer Berliner
Allgemeinarztpraxis vor, die eine Auszubildende suchte. In sehr einfachem
Deutsch erklärte ich dann im Bewerbungsgespräch, warum ich Arzthelfer
werden wollte: „Ich wollen richtig Beruf lernen und helfen Menschen.“
taz: Der Beruf Arzthelfer wurde damals ausschließlich von Frauen ausgeübt.
Hatten Sie gar keine Bedenken als einziger Mann in einer reinen
Frauenklasse zur Schule zu gehen?
Çağıllıgeçit: Nein, mit Frauen habe ich mich immer gut verstanden – auch,
als ich noch vor meinem 18. Lebensjahr in der Türkei lebte. Deshalb war ich
auch gar nicht geschockt, als ich hörte, dass zwei deutsche Männer diese
Ausbildung nach wenigen Wochen abgebrochen hatten. Aber erst mal musste ich
gegen Vorurteile in der Praxis ankämpfen. Eine Mitarbeiterin war sich
hundertprozentig sicher, dass türkische Männer alle Machos sind, sich nie
hinter einen Herd stellen oder einen einzigen Teller abwaschen würden! Es
war im Praxiskollektiv nämlich üblich, dass wir reihum kochten und
abwuschen. Sie war dagegen, dass ich dort anfing. Aber es hat keine drei
Wochen gedauert, dann hat sie gesehen, dass auch türkische Männer dazu in
der Lage sind. Plötzlich war ich ihr Lieblingskollege und sie hat sich bei
mir für ihre Vorurteile entschuldigt.
taz: Was hat Sie 1979 nach Deutschland geführt?
Çağıllıgeçit: Ich stand – genau wie meine Familie – immer politisch li…
In den 1970er Jahren ging ich deshalb regelmäßig mit meinen Freunden auf
die Straße und demonstrierte gegen die konservative Regierung. Auch nachts
zogen wir trotz Ausgangssperre von Haus zu Haus und verteilten Flugblätter
– ohne Angst, dafür getötet zu werden. Als ich im Herbst 1978 Abitur
machte, wurde die politische Situation aber immer schlimmer. Die Polizei
setzte bei Demonstrationen regelmäßig Wasserwerfer ein, schoss wahllos in
die Menge, verhaftete viele Menschen und folterte sie sogar im Gefängnis zu
Tode. Es war wie im Bürgerkrieg. Ich wusste, wenn ich meine
linkspolitischen Ideale nicht verrate, werde ich gefangengenommen und muss
vielleicht sogar sterben. Aber ich wollte leben! Mit meinen linken
Überzeugungen und der Möglichkeit, frei meine Meinung zu sagen. Weil das so
in der Türkei nicht mehr möglich war, beschloss ich, wegzugehen.
taz: Wieso haben Sie sich im damals noch geteilten Berlin niedergelassen?
Çağıllıgeçit: Eigentlich wollte ich in ein Land mit Sonne und Meer weiter,
zum Beispiel nach Frankreich. Weil ich mich in Berlin aber wohlgefühlt und
im Arbeiter- und Jugendverein aus der Türkei Gleichgesinnte gefunden hatte,
mit denen ich für die türkisch-kurdische Bevölkerung kämpfen konnte, bin
ich hier geblieben. Über den Verein haben wir Ende der 1980er Jahre sogar
einen Hungerstreik organisiert, damals den größten in Europa, um zu
erreichen, dass die türkische Militärjunta aufhört, Regierungsgegner in
Gefängnissen zu Tode zu foltern. Damit erreichten wir, dass eine deutsche
Kommission 1981 in die Türkei fuhr und die türkische Regierung deshalb das
Foltern vorübergehend beendete. Nach diesem Hungerstreik wollte ich endlich
einen Beruf lernen und so in Deutschland ankommen.
taz: Sie heißen Veli Çağıllıgeçit (sprich: Kalligedschid). Während Ihrer
Ausbildungszeit wurden Sie aber immer „Herr Veli“ genannt. Wie kam es dazu?
Çağıllıgeçit: Am ersten Tag meiner Arzthelferinnen-Ausbildung stand ich als
25-jähriger türkischer Mann – mit schwarzen Locken und einem schwarzen
Schnurrbart, auf den ich sehr stolz war, – in einem riesigen Saal, zusammen
mit ungefähr 200 17-jährigen Frauen. Fast alle aus Deutschland, mit
helleren Haaren als ich und Namen, die leicht auszusprechen waren. Der
Schuldirektor rief uns nacheinander auf, um unsere Anwesenheit zu
überprüfen. Als er meinen Nachnamen vorlesen wollte, setzte er dreimal an,
schüttelte dann den Kopf und sagte: „Es tut mir leid, ich kann Ihren
Nachnamen nicht aussprechen. Ich sage jetzt einfach Ihren Vornamen: Ist ein
Herr Veli hier anwesend?“
taz: Sie wurden also mit dem Vornamen aufgerufen und hießen von diesem
Zeitpunkt an Herr Veli.
Çağıllıgeçit: Ja, genau, alle nannten mich nur Herr Veli. Als wir danach in
unsere Klassen gingen, wurden wir von der Lehrerin mit „Guten Morgen, meine
Damen“ begrüßt und meine Klassenkameradinnen fingen sofort an zu kichern.
Eine von ihnen sagte: „Aber unter uns ist auch ein Mann!“, trotzdem blieb
es jeden Morgen bei der Begrüßung: „Guten Morgen, meine Damen!“
taz: Wie war das Miteinander mit den anderen Schülerinnen?
Çağıllıgeçit: Die anderen Frauen waren sehr freundlich und zurückhaltend,
und ich war es auch. In meiner Kultur war es üblich, Frauen nicht direkt in
die Augen zu sehen. Deshalb ging ich immer mit gesenktem Kopf an meinen
Klassenkameradinnen vorbei und versuchte, möglichst schnell nach Draußen
auf den Hof zu kommen. Es gab während dieser zwei Jahre nur eine Situation,
in der ich sehr enttäuscht von meinen Mitschülerinnen war.
taz: Bitte erzählen Sie!
Çağıllıgeçit: Ich musste damals dreimal in der Woche mit der U-Bahn zum
theoretischen Unterricht in eine Berufsschule nach Berlin-Wedding fahren.
Dazu stieg ich am Bahnhof Hallesches Tor ein und in Rehberge wieder aus.
1984 stand ja die Berliner Mauer noch, und dann kamen an der U-Bahn-Station
Kochstraße oft West-Polizisten in die Züge und haben stichprobenartig
Ausweise kontrolliert, während der Zug an den Bahnhöfen Stadtmitte,
Französische Straße, dann wieder Oranienburger Tor, Nordbahnhof und Station
der Weltjugend vorbei fuhr. Aber die Polizisten kontrollierten eigentlich
nur Menschen mit dunklen Haaren und dunklen Augen, so wie mich. Und um mich
herum standen ja meine Schulkameradinnen, die mich kannten und wussten, ich
bin kein Ostdeutscher, der in den Westen flüchten möchte, sondern dass ich
einfach nur zur Schule fahren will. Aber keine von ihnen ist aufgestanden
und hat zu den Polizeibeamten gesagt: „Das ist unser Mitschüler, der will
nur in die Berufsschule fahren. Den müssen Sie nicht immer wieder
kontrollieren.“ Das fand ich sehr kränkend.
taz: Haben Sie sich von Seiten der Lehrer*innen respektiert gefühlt oder
gab es in der Schule auch Momente, in denen Sie als Ausländer diskriminiert
wurden?
Çağıllıgeçit: Nein, die Lehrerinnen – damals unterrichteten an der Schule
keine Männer – waren freundlich und viele haben mich auch motiviert. Meine
Deutschlehrerin hat zum Beispiel immer gesagt: „Herr Veli, Sie müssen
Deutsch lernen!“ Daran habe ich gemerkt, dass sie sich um mich Gedanken
macht. Und das hat mich motiviert, jeden Abend nach der Ausbildung noch
Deutsch zu lernen. Aber soweit, dass die Lehrerinnen uns anders begrüßten,
weil ich mit in der Klasse saß, ging es nicht. Daran konnten sie sich
scheinbar nicht gewöhnen.
taz: Heute hat sich die Situation im Vergleich zu damals verändert und es
ist nicht mehr so sonderbar, dass ein Mann sich zum Arzthelfer ausbilden
lässt. Reagieren Menschen trotzdem noch verwundert, wenn Sie von Ihrem
Beruf erzählen?
Çağıllıgeçit: Früher haben die meisten, denen ich Blut abnehmen wollte, zu
mir gesagt: „Sie sind bestimmt Assistenzarzt“ oder „Sie studieren bestimmt
Medizin“. Keiner hat gedacht, dass ich Arzthelfer bin, und viele waren
verwundert, wenn ich das aufgeklärt habe. Heute sagen die Patient*innen
gar nichts mehr dazu, wenn die Tür von unserem Praxislabor aufgeht und ein
Mann vor ihnen steht. Aber zu Fortbildungen werde ich noch immer als „Frau
Çağıllıgeçit“ eingeladen. Auch auf allen Zeugnissen, die ich nach Abschl…
meiner Arzthelfer-Ausbildung erhalten habe, stand immer: „Frau Veli
Çağılligeçit“. Sogar meine Yogalehrerin hat mir aus Versehen ein Zeugnis
zur „Yogalehrerin“ ausgestellt. Obwohl sie mich ja drei Jahre unterrichtet
hatte und wusste, dass ich ein Mann bin! Sie hat mein Zeugnis aber
verändert, als ich sie darauf aufmerksam gemacht habe, im Gegensatz zu
meinem Arzthelfer-Abschlusszeugnis: Da steht immer noch „Zeugnis zur
Arzthelferin“. Genau genommen bin ich also kein Arzthelfer, sondern
Arzthelferin. (lacht)
taz: Wieso wurde das damals nicht korrigiert?
Çağıllıgeçit: Als ich das Zeugnis im August 1986 bei der Ärztekammer Berl…
abholen wollte, fragten mich die Damen am Empfang, ob ich mich nicht geirrt
hätte – ich sei bestimmt zum Apothekenhelfer oder Tierarzthelfer
ausgebildet worden, aber nicht zum Arzthelfer. Diese Ausbildung machten
keine Männer! Ich erklärte ihnen, dass ich wirklich die Ausbildung zum
Arzthelfer abgeschlossen hatte. Schließlich reichten sie mir das Zeugnis
zur Arzthelferin über den Tresen. Als ich sie darauf aufmerksam machte,
dass ich ein Mann sei, auf dem Zeugnis aber Arzthelferin stand,
entschuldigen sie sich dafür, und erklärten mir schulterzuckend, es gebe
eben nur Vordrucke mit der weiblichen Bezeichnung. In einem halben Jahr
oder einem Jahr könnte ich aber nochmal nachfragen, bis dahin hätten sie
vielleicht auch Zeugnisvordrucke für Männer. Das war mir dann aber zu
mühsam und ich habe das Zeugnis als Andenken behalten.
taz: Was hat sich für Sie mit der bestanden Prüfung verändert?
Çağıllıgeçit: Ich hatte endlich mein Ziel erreicht! Denn als ich mich für
die Ausbildung entschieden hatte, wollte ich die Abschlussprüfung unbedingt
beim ersten Mal bestehen. Das war mir so wichtig, dass ich jeden Tag vier
Stunden gelernt habe. Mein Maßstab waren damals die deutschen Schülerinnen:
Weil die zwei Stunden pro Tag gelernt hatten, lernte ich doppelt so viel.
Zusätzlich lernte ich noch täglich Deutsch, denn es war für mich von Anfang
an klar: Wenn ich in diesem Land bleiben wollte, musste ich gut Deutsch
sprechen. Um diese Kultur zu verstehen und mit den Menschen besser
kommunizieren zu können.
taz: Sie haben von einer äußerlichen Veränderung erzählt …
Çağıllıgeçit: Ja, nach der bestandenen Prüfung habe ich mich auch äußer…
verändert … Weil mir die Prüfung so wichtig war, hatte ich damals das
Versprechen an mich selbst abgegeben, dass ich meinen geliebten Schnurrbart
abrasieren würde, wenn ich diese Prüfung schon beim ersten Mal bestehen
sollte. Mein Schnurrbart stand für meine linke politische Überzeugung. Er
sollte dem von Maxim Gorki ähneln und ich wollte mit diesem Versprechen
zeigen, wie ernst ich es meinte. Niemand von meinen deutschen Freunden,
Bekannten und Mitbewohnern hatte mir damals geglaubt, dass ich das wirklich
machen würde. Aber ich habe es getan!
taz: Was war die Erfahrung in Ihrer Zeit als Arzthelfer, an die Sie sich am
intensivsten erinnern?
Çağıllıgeçit: Vor allem die Aids-Zeit habe ich sehr intensiv erlebt: Unsere
Praxis war eine HIV-Schwerpunkt-Praxis, weil wir viele homosexuelle
Patient*innen und Ärzt*innen hatten, also viele Kontakte in die
homosexuelle Szene. Am Anfang, als die Erkrankung noch unbekannt war, kamen
viele Patient*innen zu uns, die sich unheimlich schlecht fühlten. Denen
nahm ich Blut ab und teilweise waren sie drei Wochen später schon tot! In
dieser Zeit habe ich zum ersten Mal überlegt aufzuhören, weil ich Alpträume
hatte, dass ich mich mit einer infizierten Nadel steche, überall Blut
spritzt und ich mich selbst infiziere. Zum Glück ist das aber nicht
passiert. Ich habe mir damals mit einer Shiatsu-Ausbildung eine weitere
Herausforderung gesucht, mittlerweile ein sehr wichtiger Teil meines
Lebens, und bin Arzthelfer geblieben.
taz: 1989, das Jahr, als die Berliner Mauer fiel, war für Sie bedeutsam,
weil Sie zum ersten Mal nach zehn Jahren in Ihr Heimatland zurückreisten.
Bitte beschreiben Sie uns diese Reise.
Çağıllıgeçit: Diese Reise war für mich so besonders, weil ich meine Brüd…
und meinen Vater zehn Jahre lang nicht gesehen hatte. Meine Mutter hatte
mich nach fünf Jahren besucht, aber die anderen nicht. Und Telefonate in
die Türkei waren damals sehr teuer, also hatten wir auch kaum miteinander
gesprochen. Als ich dann endlich im Flugzeug saß, war ich total
durcheinander. Ich empfand Aufregung, Angst und Freude gleichzeitig und mir
gingen verschiedene Fragen durch den Kopf: Wer holt mich ab? Wie werden mir
meine Brüder und mein Vater begegnen? Mein jüngster Bruder war ja drei
Jahre alt, als ich die Türkei verlassen hatte. Als ich endlich durch die
Zollkontrolle durch war, schloss ich meinen jüngsten Bruder in die Arme,
und wir kuckten uns erst mal ewig in die Augen. Ohne ein Wort zu sagen.
Denn Gefühl, das man hat, wenn man nach zehn Jahren seine
Familienmitglieder wieder sehen und spüren kann, lässt sich mit Worten
nicht beschreiben.
19 Jan 2025
## AUTOREN
Heike Grosse
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