| # taz.de -- Geflüchtete Jesidin anonym in Köln: Leben wie auf Pause gestellt | |
| > Die Jesidin Zilan floh aus dem Irak nach Deutschland. Ihr droht | |
| > Abschiebung, doch mithilfe von „Bürger:innenasyl“ kommt sie anonym in | |
| > einer WG unter. | |
| Bild: Der Himmel über Köln: „Mein Leben steht auf Pause“, sagt Zilan | |
| Köln taz | Der echte Name von Zilan darf nicht unten am Klingelschild | |
| stehen. Sie kommt die Treppen herunter, um die Haustür zu öffnen. Die | |
| [1][junge Jesidin] hat dunkles Haar und weiche Züge, trägt weiße French | |
| Nails, einen grauen Cardigan, blaue Jeans. Beim Sprechen lacht sie häufig. | |
| Manchmal, so wirkt es, aus echter Belustigung, manchmal, um das Erzählte zu | |
| überspielen. In der Kölner WG-Küche ist alles etwas durcheinander. Fotos an | |
| der Wand, ungemachter Abwasch, ein Putzplan mit Wäscheklammern. | |
| Zilan ist aus dem Irak geflohen. Dort hat der „Islamische Staat“ vor rund | |
| 10 Jahren einen Völkermord an der jesidischen Bevölkerung begangen. 5.000 | |
| bis 10.000 Jesid:innen wurden nach Angaben der UN getötet, rund 7.000 | |
| verschleppt. Viele von ihnen wurden Opfer [2][von sexueller Gewalt], noch | |
| immer ist die Lage im Irak schwierig. | |
| Zilan lebt seit fast fünf Jahren hier, spricht fließend Deutsch. Trotzdem | |
| muss sie sich verstecken, ihre Abschiebung nach Rumänien droht. „Ich habe | |
| einen großen schwarzen Koffer, da sind all meine Sachen drin. Ich packe ihn | |
| nie richtig aus, falls ich schnell weg muss“, sagt die 28-Jährige. | |
| Zwischen Januar und September 2024 wurden in Deutschland 14.706 Personen | |
| abgeschoben, 4.417 davon ins EU-Ausland – rund 22 Prozent mehr als im | |
| Vorjahreszeitraum. Die Asylrechtsverschärfungen der letzten Monate – von | |
| GEAS-Reform über „Rückführungsverbesserungsgesetz“ bis „Sicherheitspak… | |
| erhöhen den Druck auf Asylsuchende massiv, Schutzräume werden unsicherer. | |
| Seit Februar dürfen Polizeibeamt:innen Räume von Unbeteiligten, die | |
| in Sammelunterkünften leben, auch ohne richterlichen Beschluss durchsuchen. | |
| ## Nachteile von Kirchenasyl | |
| Im November 2024 wurde eine 28-jährige Türkin mit ihren beiden Kindern aus | |
| [3][einem Hamburger Frauenhaus] abgeschoben, in dem sie Schutz vor ihrem | |
| Ex-Partner gesucht hatte. Auch evangelische und katholische Gemeinden | |
| können Abschiebungen nicht mehr zuverlässig verhindern. | |
| [4][Das Kirchenasyl] galt lange als sicherer Hafen für Asylsuchende, die | |
| rechtlich keine Möglichkeit haben, ihre Abschiebung abzuwenden. Thomas Groß | |
| ist Rechtswissenschaftler und forscht an der Universität Osnabrück am | |
| interdisziplinären Institut für Migrationsforschung. Er sagt der taz: „Der | |
| Nachteil des Kirchenasyls ist, dass die Behörden meistens wissen, wo sich | |
| die Menschen aufhalten.“ Die Kirche werde von behördlicher Seite nicht mehr | |
| als genereller Schutzraum anerkannt. In den letzten Monaten wurden mehrfach | |
| Fälle bekannt, bei denen Menschen aus dem Kirchenasyl abgeschoben wurden. | |
| Groß ergänzt: „Durch immer härtere Asylrechtsreformen wird der Schutz durch | |
| die Zivilgesellschaft wichtiger.“ Abschiebungen in europäische Drittstaaten | |
| zu stoppen, sei mit hohen rechtlichen Hürden verbunden. So sollen etwa die | |
| sogenannten Dublin-Fristen im Rahmen der GEAS-Reform verlängert werden. | |
| Asylsuchende, die in einem EU-Drittstaat registriert sind, könnten in | |
| Zukunft noch 36 Monate nach Einreise in Deutschland in [5][diesen Staat | |
| abgeschoben] werden. Bisher lag die Frist zwischen sechs und achtzehn | |
| Monaten. | |
| ## Die Alternative: Bürger:innenasyl | |
| Die 2019 gegründete [6][Initiative „Bürger:innenasyl“] schafft eine | |
| Alternative: Menschen, die keine Rechtsmittel gegen ihre Abschiebungen | |
| einlegen können, unter einer solchen aber besonders leiden würden, werden | |
| in Privathaushalten versteckt. Dadurch, dass ihr Wohnort geheim gehalten | |
| wird, können Behörden sie erst mal nicht abschieben. Einer der Kölner | |
| Mitinitiatoren, Jan Henkel, sitzt in einem Café mit zusammengewürfelter | |
| Einrichtung in Köln-Ehrenfeld. Der 64-Jährige trägt langes graues Haar und | |
| nippt an einem Tee. „Was wir da machen, ist ein Akt des Widerstands gegen | |
| die Unmenschlichkeit in der Asylpolitik“, sagt er. | |
| Der gelernte Elektrotechniker lächelt, wenn er von dem „fröhlichen | |
| Pragmatismus“ spricht, durch den sich die Idee des Bürger:innenasyls | |
| auszeichnet. Die Initiative, erzählt er, kläre organisatorische und | |
| rechtliche Fragen, sammle Spenden und suche Möglichkeiten für die | |
| Unterbringung. Alles andere laufe wie von selbst. „Der ganz akute Druck | |
| lässt dann erst mal nach“, sagt er. | |
| Die Asylsuchenden müssten keine Angst mehr haben, nachts um fünf aus einer | |
| Sammelunterkunft abgeschoben zu werden, könnten ein wenig durchatmen. Das | |
| Kirchenasyl sei eine gute Sache, reiche aber längst nicht mehr aus. „Das | |
| Netzwerk Asyl der Kirchen in NRW bekommt täglich 20 Anfragen fürs | |
| Kirchenasyl.“ Ein paar könnten zwar aufgenommen werden. „Der Rest fällt | |
| hinten runter. Man kann schon sagen: Das ist eine Triage, die da | |
| stattfindet.“ | |
| Aktuell, so Henkel, werden neun Menschen in Köln über die Initiative in | |
| Privathaushalten versteckt, seit Gründung der Initiative 2019 seien es 57 | |
| gewesen. Bundesweit, so schätzt Henkel, wurden bisher zwischen 400 und 500 | |
| Abschiebungen durch die Initiative verhindert. | |
| ## Zilan: „Mittlerweile bin ich müde.“ | |
| Zilan erzählt von ihrem Leben im Versteck, kocht zwischendurch Tee und | |
| Kakao, lässt nebenbei melancholische Lieder in arabischer Sprache von Ali | |
| Halem laufen. Wenn ihr eine Textzeile gut gefällt, übersetzt sie sie. „Ich | |
| bin alleine, es ist ungerecht, dass ich so leben muss, in meinem Herzen | |
| sind viele Dinge, die niemand verstehen kann“, lautet ein Vers. Als sie | |
| nach Deutschland kam, habe sie große Ziele gehabt. „Mittlerweile bin ich | |
| müde.“ Jeden Tag habe sie mithilfe von Youtube-Videos Deutsch gelernt, sich | |
| selbstständig einen Kurs gesucht und stundenlang geübt. Eine Chance auf | |
| einen dauerhaften Aufenthaltstitel hat sie trotzdem nicht. | |
| Zilans Reise nach Europa verlief über Rumänien. In einer Sammelunterkunft, | |
| in der sie vier Monate lebte, habe sie sexualisierte Gewalt erfahren, | |
| erzählt Zilan. Eine Person, die viel Einfluss auf ihr Asylverfahren hatte, | |
| habe seine Machtposition ausgenutzt und sexuelle Gegenleistungen von ihr | |
| gefordert. Um wen genau es sich handelt, möchte Zilan nicht öffentlich | |
| machen. | |
| Die Situation in Rumänien sei extrem belastend gewesen. „Kein Geld, keine | |
| Arbeit, keine Unterstützung. Das war kein Ort, um ein neues Leben zu | |
| beginnen.“ Insgesamt 15 Mal sei sie in Rumänien von der Polizei | |
| aufgegriffen worden, sagt Zilan. „Beim letzten Mal wurde ich gedrängt, | |
| einige Papiere zu unterschreiben. Ich habe nicht verstanden, worum es | |
| ging.“ | |
| Erst später sei ihr klar geworden, dass sie eine dauerhafte | |
| Aufenthaltsgenehmigung bekommen hatte. Das disqualifiziert sie für ein | |
| Asylverfahren in Deutschland. Die Dublin-Frist, die normalerweise nach | |
| sechs Monaten abläuft, greift im Fall von Zilan nicht. „Ich habe viermal | |
| den Anwalt gewechselt – rechtlich lässt sich nichts machen“, sagt sie. Das | |
| Bürger:innenasyl sei im Moment die einzige Option. | |
| ## Miete für WG-Zimmer ist spendenfinanziert | |
| Wenn Zilan einkaufen geht, schaut sie sich ständig um. Wenn sie in der | |
| Straßenbahn in eine Fahrkartenkontrolle gerät, hofft sie, dass niemand nach | |
| ihrem Ausweis fragt. Wenn doch: Herzklopfen, kalter Schweiß, Ausreden | |
| suchen. Auch wenn sie Polizeibeamt:innen sieht, bekommt Zilan Panik. | |
| „Ich musste erst lernen, nicht wegzurennen, wenn ich einen Streifenwagen | |
| sehe“, sagt sie. Bei Arztbesuchen ist Zilan auf ehrenamtliche Angebote | |
| angewiesen. Medizinische Versorgung für Menschen ohne gültigen | |
| Aufenthaltsstatus wird in Köln durch die „Malteser Medizin für Menschen | |
| ohne Krankenversicherung“ bereitgestellt. | |
| Mit zehn Mitbewohner:innen lebt Zilan nun seit rund sechs Monaten | |
| zusammen, vorher hatte sie in einer anderen WG Unterschlupf gefunden. Einer | |
| von ihnen ist Michael*, auch sein echter Name darf nicht in der Zeitung | |
| stehen. Er ist groß, hat seine Haare auf der einen Seite abrasiert und | |
| trägt sie auf der anderen Seite lang. Der 29-jährige Sozialarbeiter und | |
| Klimaaktivist ist nachdenklich. Vor jedem Satz überlegt er, wie er ihn am | |
| besten formuliert. Dass er und die WG Zilan vor einer möglichen Abschiebung | |
| schützen, bezeichnet er als „passive Notwendigkeit“. | |
| Dass das überhaupt nötig sei, als „himmelschreiende Ungerechtigkeit“. | |
| Kosten seien damit nicht verbunden, die Miete von Zilans Zimmer ist | |
| spendenfinanziert. Auch vor möglicher Strafverfolgung habe hier niemand | |
| Angst, sagt Michael. „Für uns war sofort klar, dass wir Zilan aufnehmen.“ | |
| ## Vorsichtsmaßnahmen, wenn die Tür klingelt | |
| Rechtswissenschaftler Thomas Groß sagt: „Ob Privatpersonen, die | |
| Asylsuchenden Schutz gewähren, strafrechtlich verfolgt würden, hängt stark | |
| von den Umständen des Einzelfalls ab.“ Bisher würden die Menschen, die sich | |
| verstecken, als primäre Straftäter:innen behandelt. Ihnen können | |
| zusätzlich zur Abschiebung Geld- oder Freiheitsstrafen drohen. Menschen, | |
| die Bürger:innenasyl gewähren, würden dagegen zumindest nicht in | |
| größerem Umfang strafrechtlich verfolgt, sagt Groß. | |
| 2021 hatte es in Münster und Aschaffenburg Verfahren gegen | |
| Aktivist:innen gegeben, die zum Schutz durch Bürger:innenasyl | |
| aufgerufen hatten. Beide Verfahren endeten mit einem Freispruch. „Wenn der | |
| politische Druck, mehr Abschiebungen durchzuführen, aber weiterhin so hoch | |
| bleibt, wird der polizeiliche Fahndungsdruck früher oder später steigen“, | |
| so Groß. | |
| Schon jetzt haben Michael, Zilan und ihre Mitbewohner:innen | |
| Vorsichtsmaßnahmen getroffen. „Wenn jemand unangekündigt an der Tür | |
| klingelt, machen wir nicht auf“, sagt Michael. Zu groß sei die Gefahr, dass | |
| die Behörden von Zilans Versteck Wind bekämen. Nur der engste Freundeskreis | |
| weiß Bescheid. Wenn sie zusammen draußen unterwegs sind, sagt Michael, | |
| schwinge immer die Angst mit. Öffentliche Plätze, an denen anlasslose | |
| Personenkontrollen durchgeführt werden, Bahnhöfe zum Beispiel, würden sie | |
| meiden. Trotzdem: Dass etwas passiere, sei ziemlich unwahrscheinlich. „Das | |
| Problem ist, dass es für Menschen wie Zilan kaum Perspektiven gibt, ihr | |
| Versteck irgendwann zu verlassen“, so der 29-Jährige. | |
| Jan Henkel vom „Bürger:innenasyl“ blick etwas optimistischer in die | |
| Zukunft. „Wir sind zwar in den letzten Jahren immer mehr in die Defensive | |
| geraten. Aber das letzte Wort ist nicht gesprochen“, sagt er. Trotz | |
| drastischer migrationspolitischer Verschärfungen sei ein Diskurswandel | |
| möglich. „Das Bürger:innenasyl ist zumindest ein Anfang.“ | |
| Zilan rührt im Kakao und zeigt ein paar Bilder von ihrer Familie auf dem | |
| Handy. „Mein Leben steht auf Pause“, sagt sie. Mit jedem Tag, der im | |
| Versteck vergeht, falle es ihr schwerer, hoffnungsvoll zu bleiben. „Ich bin | |
| ein Mensch, ich habe einen Namen, und ich habe genug davon, mich zu | |
| verstecken.“ | |
| 14 Jan 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Genozid-an-den-Jesidinnen/!6026989 | |
| [2] https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/550977/2014-voelkermord-a… | |
| [3] /Abschiebung-aus-dem-Frauenhaus/!6047871 | |
| [4] /Kirchenasyl-gebrochen/!6036824 | |
| [5] https://www.asyl.net/view/geas-reform-beschlossen-der-rat-der-europaeischen… | |
| [6] https://aktionbuergerinnenasyl.de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Joscha Frahm | |
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