| # taz.de -- taz-adventskalender „24 stunden“ (21): 21 Uhr bei Dussmann | |
| > Schlange stehen wie am Flughafen, zum Glück ohne Musik: Im | |
| > „Kulturkaufhaus“ an der Friedrichstraße brummt der Laden auch noch am | |
| > späteren Abend. | |
| Bild: Im Ernst, wer soll das alles lesen? | |
| Stressig und chillig, hässlich und schön, herzerwärmend und abstoßend: | |
| Berlin hat viele Seiten, rund um die Uhr. In diesem Advent hangeln wir uns | |
| durch 24 Stunden Hauptstadtleben und verstecken jeden Tag aufs Neue 60 | |
| Minuten Berlin hinter unserem taz-berlin-Kalendertürchen. Heute: ab 21 Uhr | |
| bei Dussmann in der Friedrichstraße. | |
| Gleich rechts hinter dem Eingang wartet Angela Merkel auf mich und hat | |
| etwas zu berichten: „Am 10. November 1989, einem Freitag, verließ ich wie | |
| jeden Morgen gegen 6.30 Uhr meine Wohnung in der Schönhauser Allee 104 in | |
| Berlin-Prenzlauer Berg, um vom S-Bahnhof Schönhauser Allee nach | |
| Berlin-Adlershof zur Arbeit zu fahren.“ Das sagt mir die Ex-Kanzlerin | |
| natürlich nicht persönlich – es ist der erste Satz ihrer Autobiografie | |
| „Freiheit“, die das Kulturkaufhaus Dussmann zu einem beachtlichen Stapel | |
| geschichtet hat. | |
| Die meisten gehen an diesem vorweihnachtlichen Einkaufsabend daran vorbei. | |
| Während viele Läden in der Stadt um 21 Uhr schon geschlossen haben, brummt | |
| das Geschäft bei Dussmann zuverlässig. Bis Mitternacht wird hier geshoppt, | |
| was das Zeug hält: Bücher, Postkarten, Spiele, lustige Tassen, Socken mit | |
| Zuckerstangen-Motiv, Vintage-Polaroidkameras, Flachmänner mit „Berliner | |
| Winter“, einem Getränk aus Apfelsaft, Gewürzen und Wodka. | |
| Ein junges Paar steht vor den Karten mit lustigen Sprüchen à la „Mein | |
| liebstes Wintergemüse ist die Marzipankartoffel“. „Ich hab jetzt zwanzig�… | |
| sagt der Mann, „das muss reichen. Nächstes Jahr ist auch wieder | |
| Weihnachten.“ Seine Partnerin weist ihn noch auf ein Exemplar mit der | |
| Fotografie eines verschneiten Berliner Hinterhofs hin. In den Schnee hat | |
| jemand ein großes Herz getrampelt, darin das Wort „Ficken“. Der Mann lacht. | |
| „Könnte von meinem Vater sein.“ | |
| Das ganze Dutzend Kassen ist besetzt, die Leute stehen in einer Schlange | |
| an, die wie am Flughafen durch Spannbänder in enge Kurven gezwungen wird. | |
| Wo er Geschenkpapier für sein Buch finde, fragt ein Kunde. „Zum | |
| Einpackservice den Mittelgang runter, rechts an der Sphinx vorbei“, lautet | |
| die Antwort. Hinter der altägyptischen Skulptur stehen drei junge Frauen an | |
| einem Tresen, sie wickeln und falten und ziehen mit der Schere bunte Bänder | |
| kraus. | |
| ## Hundert Stück pro Schicht | |
| Ich stelle mich an, nur mal so, um nach dem Output zu fragen. „Pro Schicht | |
| schaffe ich um die hundert“, antwortet eine Mitarbeiterin, „also ungefähr | |
| zwanzig pro Stunde.“ Ihre Kollegin verpackt gerade den Wälzer „Anästhesie | |
| und Intensivmedizin für die Fachpflege“, 8. Auflage. Die Kundin wählt ein | |
| oranges Schmuckband. | |
| Ich finde Buchhandlungen auf eine seltsame Weise deprimierend. Die Tische | |
| biegen sich unter Neuerscheinungen mit und ohne Spiegel-Bestseller-Etikett, | |
| von manchen Titeln habe ich gehört, von den meisten noch nie. Druckfrische | |
| Bücher sehen für mich immer aus, als müsse man sie eigentlich alle lesen, | |
| müsse die ganze Originalität aufsaugen, die da auf hunderttausenden Seiten | |
| ausgebreitet liegt, nur um ein paar Monate später durch die nächste Fuhre | |
| abgelöst zu werden. Wer soll das lesen? Wie viele Leben bräuchte man dazu? | |
| Was hilft, ist blättern. Oder erste Sätze vergleichen. „Ich war seit vier | |
| Uhr morgens wach und hatte mich so oft von links nach rechts und wieder | |
| zurück gedreht, dass mir fast schwindelig war“, lautet der im Fall des | |
| Romans „Morden in der Menopause“ einer gewissen Tine Dreyer oder „Ich hab | |
| das Plumpsklo renoviert“ in „Iowa“ von Stefanie Sargnagel. | |
| ## Kein öliger Weihnachtsjazz | |
| Obwohl mich das alles nicht wirklich glücklich macht, konstatiere ich: Die | |
| Menschen hier drin sehen irgendwie ein bisschen zufriedener aus als die | |
| draußen auf der Straße. Vielleicht liegt es ja am warmen Licht, den vielen | |
| bunten Covern, dem weichen roten Teppichboden. Eines muss man Dussmann auf | |
| jeden Fall lassen: Das ganze nennt sich Kaufhaus, aber es läuft keine | |
| Musik. Weder öliger Weihnachtsjazz noch irgendetwas anderes. Es herrscht | |
| die wohltuende Halbstille einer gut besuchten Bücherei. | |
| Auf einer der Treppen ins erste Obergeschoss geht vor mir ein schlaksiger | |
| Mann im Trenchcoat, in der Hand eine abgewetzte Ledertasche. Moment, ist | |
| das nicht … genau, taz-Kollege Helmut Höge. Was er hier macht? Manchmal | |
| kaufe er hier ein, sagt er. „Aber ich gehe immer gleich zur Biologie und | |
| den Tieren“, seinen Herzensthemen. | |
| „Vor Jahren wollte die taz von mir auch mal eine Dussmann-Reportage“, | |
| erzählt Helmut. „Damals hatten die sogar rund um die Uhr geöffnet, und die | |
| Annahme war natürlich, dass das für das Personal ganz schrecklich ist. Aber | |
| alle, mit denen ich mich unterhalten habe, fanden das eigentlich ganz | |
| prima.“ Wir verabschieden uns. „Ich habe für dich ein Buch auf meinem | |
| Schreibtisch liegen“, sagt er mir noch, „kannste dir abholen“. | |
| Das letzte Buch, das Helmut für mich übrig hatte, war eines über das | |
| Verhalten von Raben, sehr lesenswert. Gut, dass manchmal Bücher einfach so | |
| zu mir kommen. Dann muss ich mir keine kaufen. | |
| 21 Dec 2024 | |
| ## AUTOREN | |
| Claudius Prößer | |
| ## TAGS | |
| taz-Adventskalender | |
| Buchhandel | |
| Arbeitszeit | |
| taz-Adventskalender | |
| taz-Adventskalender | |
| Berlin-Wedding | |
| Waschmaschine | |
| Streaming | |
| taz-Adventskalender | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| taz-adventskalender „24 stunden“ (24): 24 Uhr in der Cocktailbar | |
| Alles hoch hier, auch die Preise. Doch aus 65 Meter Höhe verklärt sich der | |
| Blick auf Berlin. Die Bar Loft14 liegt im 14. Stock eines 4-Sterne-Hotels. | |
| taz-adventskalender „24 stunden“ (23): 23 Uhr bei McFit | |
| Kurz vor Mitternacht den Bizeps flexen: In einem Lichtenberger | |
| Fitnessstudio geht dem Autor beim Gewichtestemmen ein Licht auf. | |
| taz-adventskalender „24 stunden“ (22): 22 Uhr in der Trattoria | |
| Weihnachtliche Atmosphäre und ein Seitenhieb gegen die Bundesregierung – | |
| das kann man um 22 Uhr in einem Weddinger Restaurant noch erleben. | |
| taz-adventskalender „24 stunden“ (20): 20 Uhr im Waschsalon | |
| Im „Wash and Dry“ in Neukölln ist am Abend noch reger Betrieb. Freiwillig | |
| ist keine*r hier: es ist teuer, langweilig und manchmal wird Wäsche | |
| geklaut. | |
| taz-adventskalender „24 stunden“ (19): 19 Uhr in der Videothek | |
| Das Videodrom kämpft seit Jahren gegen die Streaming und ausbleibende | |
| Einnahmen. Zu Besuch in einer Videothek, die dem Kommerz trotzt. | |
| taz-adventskalender „24 stunden“ (18): 18 Uhr im Kino | |
| Viele Kulturorte gelten als Institution – das Bali-Kino in Zehlendorf ist | |
| tatsächlich eine. Es trotzt seit Jahrzehnten Großkinos und Zuhause-Gucken. |