# taz.de -- taz-adventskalender „24 stunden“ (22): 22 Uhr in der Trattoria | |
> Weihnachtliche Atmosphäre und ein Seitenhieb gegen die Bundesregierung – | |
> das kann man um 22 Uhr in einem Weddinger Restaurant noch erleben. | |
Bild: Auch nach 22 Uhr noch gut besucht: Das „Dolce Vita“ im Wedding | |
Stressig und chillig, hässlich und schön, herzerwärmend und abstoßend: | |
Berlin hat viele Seiten, rund um die Uhr. In diesem Advent hangeln wir uns | |
durch 24 Stunden Hauptstadtleben und verstecken jeden Tag aufs Neue 60 | |
Minuten Berlin hinter unserem [1][taz-berlin-Kalendertürchen]. Heute: ab 22 | |
Uhr in einer Weddinger Trattoria . | |
Die italienische Musik, abgespielt über schwarze Musikboxen, ist auch für | |
Nicht-Italiener:innen als weihnachtlich erkennbar. Dezent platziert, aber | |
dennoch sichtbar ist die Weihnachtsdeko an den Schaufenstern und auf dem | |
Tresen. Die Einrichtung ist in dunklen Brauntönen gehalten. Von der viel | |
befahrenen Straße ist trotz niedriger Musiklautstärke nichts zu hören. | |
Die Trattoria La Dolce Vita in der Seestraße in der Weddinger Seestraße ist | |
nicht sonderlich groß, im Innenbereich können rund 50 Personen bewirtet | |
werden. „Diese Größe ist ideal. Im Sommer haben wir draußen noch mehr | |
Platz, aber für mich ist es sehr passend so“, sagt mir Salvador, dem das | |
Restaurant gehört. | |
Der 52-jährige Italiener kam 1986 nach Deutschland, weil sein Vater hier | |
als Gastarbeiter lebte. „Jetzt um zehn fangen wir schon mal an zu putzen | |
und die Abrechnung zu machen. Um halb elf bauen wir auch den Außenbereich | |
ab“, erzählt er mir, während sein Kollege die Küchenzeile wischt und ein | |
anderer das Besteck inspiziert. Auch jetzt noch ist das Restaurant gut | |
besucht, die verbleibenden Kund:innen bestellen ein letztes Getränk. Das | |
überrascht mich. Ich denke an andere Gaststätten, wo das Personal viel Wert | |
auf pünktlichen Feierabend legt. | |
## Nach dem Chor die Kehlen schmieren | |
Ich komme mit einem Tisch von vier Menschen im Alter von 60 Jahren ins | |
Gespräch. Ihre lockere und ungezwungene Art passt zum generellen Vibe der | |
Trattoria. „Wir sind hier Stammgäste“, sagt einer. Ich erfahre, dass die | |
vier im Chor der Kirche singen, die sich schräg gegenüber befindet. Warum | |
sie immer dieses Lokal besuchen? „Wir alle können nur Positives berichten“, | |
sagt eine Dame, „sonst kämen wir nicht schon seit über einem Jahr hier her, | |
um nach den Proben unsere Kehlen ein bisschen zu schmieren.“ | |
Herzlich und flexibel sei das Personal, das gefalle ihr neben dem leckeren | |
Essen am besten. „Genau“, fällt ihr ein anderer ins Wort, „egal ob wir n… | |
spontan ein paar mehr Leute werden, ob wir Sonderwünsche haben oder noch | |
kurz nach Ladenschluss hier sind, wir werden stets freundlich bedient“. | |
In der Tat ist es schon fast 22.50 Uhr, und niemand macht Anstalten, die | |
verbleibenden Kund:innen vor die Tür zu setzen. Im Gegenteil: Ein Paar | |
betritt das Restaurant und bestellt noch eine Lasagne zum Mitnehmen. Die | |
ist im Handumdrehen verpackt, und schon befinden sich die beiden auf dem | |
Weg nach draußen. | |
Auf der anderen Seite des Ladens sitzen zwei Männer mittleren Alters und | |
trinken ihren Wein aus. „Nee, wir waren noch nie hier. Ich wohne nur ein | |
paar Häuser weiter, aber die Straße hat mich immer mich abgeschreckt“, sagt | |
Chris und leert sein Glas mit einem großen Schluck. „Und ich bin nur hier, | |
weil Chris mich überredet hat“, erzählt Klaus. | |
Pizza und Pasta seien nur ihre zweit- und drittliebsten Gerichte. Am | |
liebsten mögen sie Humus. Schnell geraten wir in eine Debatte, woher genau | |
der eigentlich kommt. Dann sagt Chris: „Eigentlich ist es auch egal. Bei | |
der deutschen Berichterstattung zum Thema Nahost und der bedingungslosen | |
Solidarität mit Israel vergeht mir jeglicher Appetit. Aber das Essen hier | |
war sehr lecker.“ Damit verabschieden sich die beiden lächelnd in die milde | |
Winternacht. | |
## Nichts Außergewöhnliches | |
Mittlerweile ist es schon 23.30 Uhr, ich sitze noch einmal mit Salvador | |
zusammen. Er raucht eine Feierabendzigarette und beantwortet mit Freude und | |
Geduld meine Fragen. Mich interessiert, was das Lustigste oder Krasseste | |
ist, das seit der Eröffnung im Juli 2023 passiert ist. Salvador lacht: „Da | |
muss ich dich leider enttäuschen, hier passiert nicht viel | |
Außergewöhnliches. Deshalb mag ich es so sehr.“ | |
Vor der Trattoria befand sich hier eine Weinbar, die sich nach Corona nicht | |
mehr halten konnte. „Ich hatte ein Restaurant im Prenzlauer Berg, wohne | |
aber schon seit 20 Jahren hier im Wedding, ganz in der Nähe“, erzählt | |
Salvador. „Als diese Immobilie frei wurde, habe ich die Chance ergriffen, | |
mich etwas zu verkleinern“. Trotzdem arbeite er jeden Tag 10 bis 12 | |
Stunden, außer Montag. Ich frage mich, wie viel er wohl in dem größeren | |
Betrieb davor gearbeitet hat. | |
Die Zigarette ist aufgeraucht. „Auch wenn die Abläufe hier sich immer | |
wiederholen und alles gleich bleibt, empfinde ich gerade darin ein großes | |
Glück“, sagt er zum Schluss. „Ich kann kreativ sein im Gestalten der | |
Wochenkarte und mit verschiedenen Menschen in Kontakt kommen. Das macht | |
mich immer sehr zufrieden.“ | |
22 Dec 2024 | |
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## AUTOREN | |
Raweel Nasir | |
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