# taz.de -- taz-Serie „Was macht eigentlich…?“ (1): Arbeitskämpfe gegen … | |
> Angesichts der Haushaltskürzungen drohen harte Auseinandersetzungen in | |
> den systemrelevanten Berufen. Im Januar starten Tarifverhandlungen bei | |
> der BVG. | |
Bild: BVG-Streik im März 2024. Noch im Januar beginnen die nächsten Verhandlu… | |
Berlin taz | Im April 2024 schien es noch so, als wäre eine bessere Welt | |
möglich. Zumindest für die Beschäftigten in systemrelevanten Berufen. Die | |
Beschäftigten der [1][Berliner Verkehrsbetriebe] hatten gerade erfolgreich | |
für mehr Urlaub und längere Pausenzeiten gestreikt, die Erzieher:innen | |
bereiteten sich auf einen Arbeitskampf für einen Entlastungstarifvertrag | |
vor. Erst im Januar erstritten die Pfleger:innen des Jüdischen | |
Krankenhauses eine ähnliche Vereinbarung. Endlich, so scheint es, trägt der | |
ausdauernde Kampf von Gewerkschaften und Beschäftigten Früchte. | |
Wenige Monate später ist von dieser Hoffnung nicht viel übrig. Das | |
3-Milliarden-Sparprogramm des Senats legt auch Axt an das soziale Berlin. | |
Statt dass über bessere Arbeitsbedingungen diskutiert wird, wird nun | |
Lehrkräften der Lohn gekürzt und Jugendklubs werden geschlossen. Die | |
Haushaltskrise hat dem Kampf für mehr Anerkennung in den systemrelevanten | |
Sorgeberufen einen gehörigen Dämpfer verpasst. | |
Die Gehälter der Erzieher:innen, Lehrer:innen, Pflegekräfte, | |
Sozialarbeiter:innen und Busfahrer:innen werden direkt oder | |
indirekt vom Land finanziert. Die Haushaltskürzungen werden demnach | |
spürbare Auswirkungen auf die kommenden Arbeitskämpfe im nächsten Jahr | |
haben. | |
„Die Verhandlungen werden auf jeden Fall härter“, prognostiziert Kalle | |
Kunkel, Pressesprecher der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Die im Januar | |
startenden Tarifverhandlungen mit der BVG seien das beste Beispiel. Verdi | |
fordert 750 Euro mehr Lohn, Zulagen und ein 13. Monatsgehalt. Im Schnitt 30 | |
Prozent mehr Geld würden Mitarbeiter:innen der BVG dann am Ende des | |
Monats haben. | |
## Die BVG muss mit 100 Millionen weniger auskommen | |
Sogar im Vergleich zu den Rekordabschlüssen im vergangenen Jahr scheint | |
dieses Ziel ambitioniert. Als Reaktion auf die enormen Preissteigerungen | |
waren damals Lohnerhöhungen von über 10 Prozent keine Seltenheit. Bei den | |
Verhandlungen über den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder | |
(TV-L) im Dezember 2023 konnten die Gewerkschaften 11 Prozent mehr Lohn und | |
einen einmaligen Inflationsausgleich herausschlagen. | |
Dieses Mal ein vergleichbares Ergebnis zu erzielen, dürfte durch die | |
Kürzungen ungleich schwieriger werden. Allein die BVG muss mit 100 | |
Millionen Euro weniger auskommen. Eine Sprecherin der | |
Finanzsenatsverwaltung gibt zwar an, dass eine gewisse Summe für | |
Tarifanpassungen eingeplant sei. Aber „eine grundsätzliche Übernahme | |
der Kostensteigerungen durch den Senat erfolgt nicht, da die BVG als | |
Anstalt öffentlichen Rechts selbstständig wirtschaftet“, so die Sprecherin. | |
„Die Tarifauseinandersetzung wird ähnlich intensiv wie 2008“, sagte | |
Verdi-Verhandlungsleiter Jeremy Arndt bereits im Oktober [2][in einem | |
Interview mit der Berliner Zeitung]. Damals streikten die Verkehrsbetriebe | |
insgesamt sechs Wochen lang. Arndt kündigt an, dass es ab Januar zu | |
Warnstreiks kommen kann. | |
Die Forderung nach Lohnsteigerungen von 30 Prozent klingt im ersten Moment | |
nach gewerkschaftlichem Größenwahnsinn, ist aber nur eine logische | |
Konsequenz der Entwicklung der vergangenen Jahre. Der demografische Wandel | |
schlägt in den systemrelevanten Berufen voll durch. Diese sind in der Regel | |
unterdurchschnittlich bezahlt und überdurchschnittlich belastend. Tausende | |
Busfahrer:innen, Erzieher:innen, Lehrer:innen, Pflegekräfte und | |
Sozialarbeiter:innen nähern sich dem Rentenalter, | |
Nachrücker:innen gibt es kaum. | |
Beschäftigte warnen schon lange vor einem sich anbahnenden Kollaps der | |
sozialen Infrastruktur Berlins. Der branchenübergreifende Teufelskreis aus | |
Personalmangel, Überlastung und Berufsflucht führt dazu, dass immer weniger | |
Menschen in systemrelevanten Berufen arbeiten wollen und somit die | |
Grundversorgung gefährdet ist. | |
## Fast 1.000 Euro unter dem Durchschnitt | |
Diese Dynamik lässt sich nur brechen, wenn diese Berufe deutlich mehr | |
Anerkennung in Form besserer Arbeitsbedingungen und Entlohnung bekommen. | |
Dass Arbeitskampf ein erfolgreiches Mittel sein kann, um das zu erreichen, | |
zeigt die Pflege: Pflegefachkräfte verdienen bundesweit inzwischen im | |
Durchschnitt rund ein Drittel mehr als noch vor zehn Jahren. Eine | |
Krankenpflegerin verdient laut der Agentur für Arbeit durchschnittlich | |
4.119 Euro brutto im Monat. Das ist mehr als der Berliner Medianlohn, der | |
derzeit bei 3.875 Euro im Monat liegt. Im Vergleich liegt das | |
Einstiegsgehalt eines Busfahrers der BVG bei 2.806 Euro brutto. Das sind | |
fast die 1.000 Euro unter dem Durchschnitt, die Verdi als monatliches | |
Gehaltsplus fordert. | |
Obendrein ging es bei vielen Arbeitskämpfen zuletzt nicht (nur) um mehr | |
Geld, sondern auch um Entlastung und bessere Arbeitsbedingungen. Der | |
Arbeitskampf in den landeseigenen Kitas steht beispielhaft für diese | |
Entwicklung. | |
Der Personalmangel, vor allem durch krankheitsbedingte Ausfälle, hat sich | |
derart verschärft, dass Kitas in manchen Monaten öfter geschlossen als | |
geöffnet haben. Durch die chronische Unterbesetzung brennen | |
Erzieher:innen zunehmend aus. Ein Entlastungstarifvertrag soll den | |
tatsächlichen Personalschlüssel deutlich verbessern und für Schichten in | |
Unterbesetzung einen Freizeitausgleich bieten. | |
Verdi versuchte seit April monatelang, den Senat durch Warnstreiks zum | |
Einlenken zu bewegen, allerdings erfolglos. Schließlich kündigte die | |
Gewerkschaft einen unbefristeten Erzwingungsstreik an, der Ende September | |
im letzten Moment von der ersten Instanz des Arbeitsgerichts verboten | |
wurde. Das Urteil bestätigte das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenbrug | |
Anfang Oktober. Verdi wartet nun auf die Urteilsbegründung, um zu | |
festzustellen, ob ein Widerspruch Aussicht auf Erfolg hat. | |
## Warnstreiks konnten nicht zu Verhandlungen bewegen | |
Noch festgefahrener scheint der Kampf der Gewerkschaft Erziehung und | |
Wissenschaft (GEW) für einen Tarifvertrag Gesundheitsschutz zu sein. Seit | |
2021 fordert die Bildungsgewerkschaft deutlich kleinere Klassen, um die | |
Lehrer:innen zu entlasten und die Bildungsqualität zu verbessern – und | |
ruft deshalb immer wieder zu Streiks auf. Doch auch 2024 konnten die | |
Warnstreiks den Senat nicht zu Verhandlungen bewegen. Die Aussicht auf | |
einen unbefristeten Streik ist angesichts des gerichtlichen Streikverbots | |
bei den landeseigenen Kitas gering. | |
In beiden Fällen argumentiert Finanzsenator Stefan Evers (CDU), Berlin sei | |
durch die Tarifgemeinschaft der Länder nicht in der Lage, einen gesonderten | |
Entlastungstarifvertrag abzuschließen. Doch neben diesem formalen Argument | |
brachte der Senat immer wieder vor, dass die Umsetzung der | |
gewerkschaftlichen Forderungen wegen der Personalnot gar nicht möglich sei. | |
Mehr Erzieher:innen könne es über Nacht wegen des Fachkräftemangels | |
nicht geben, sagte Bildungssenatorin Katharina Günther-Wrünsch (CDU) im | |
September. Ähnlich sieht es bei den Lehrer:innen aus. Angesichts des | |
Fachkräftemangels will der Senat die Klassen sogar noch vergrößern. | |
Nun dürfte noch ein weiteres Argument hinzukommen. „Bis vor Kurzem hieß es, | |
an Geld scheitert es nicht, sondern am Personal“, sagt Markus Hanisch, | |
Pressesprecher der GEW. Die Erfahrung, dass es am Geld scheitern kann, | |
mussten die Wohlfahrtsverbände schon im Februar 2024 machen. Lange kämpften | |
die Beschäftigten der freien Träger dafür, dass sie genauso bezahlt werden | |
wie ihre direkt beim Land beschäftigten Kolleg:innen. Die Lücke konnte in | |
den vergangenen Jahren auf durchschnittlich 2,3 Prozent verringert werden. | |
In den Sarrazin-Sparjahren um die Jahrtausendwende hatte die Lücke noch um | |
die 20 Prozent betragen. | |
## Ein monatlicher Bonus von 150 Euro | |
Einer der größten verbleibenden Unterschiede ist die Hauptstadtzulage, ein | |
monatlicher Bonus von 150 Euro, der den Beschäftigten des Landes, nicht | |
aber denen der freien Träger gezahlt wird. Der Senat versprach, den Bonus | |
auch für die Wohlfahrtsverbände zu zahlen, nur um das Versprechen im | |
Februar angesichts knapper Kassen zu brechen. | |
Als zusätzliche Eskalation kündigte Finanzsenator Evers an, dass ab 2026 | |
keine Gelder mehr für Tarifanpassungen eingeplant würden. Zuvor | |
verhandelten die Gewerkschaften mit den freien Trägern, der Senat | |
finanzierte das Ergebnis aus und plante dementsprechend Mittel ein. | |
Meistens orientierte sich das Ergebnis am TV-L. Damit kündigt der Senat ein | |
Arrangement auf, das bislang verhinderte, dass die Löhne im Sozialbereich | |
weiter auseinanderdriften. | |
„Die gerechte und faire Bezahlung der Mitarbeitenden ist gefährdet“, warnt | |
Andrea Asch, Vorständin der Diakonie Berlin-Brandenburg-schlesische | |
Oberlausitz. Wie die jüngsten Kürzungsproteste gezeigt haben, werden weder | |
Gewerkschaften noch die freien Träger die neue Politik widerspruchslos | |
hinnehmen. | |
„Die letzten zwei Jahre haben gezeigt, welche positive Empörungskraft wir | |
in unseren Einrichtungen, Initiativen und Projekten auslösen konnten“, | |
sagte Asch Mitte Dezember bei der Übergabe der Federführung der LIGA der | |
sechs Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege. Aschs baldiger | |
Nachfolger, AWO-Vorstand Oliver Bürgel, kündigte bei der Gelegenheit an, | |
endlich eine Auszahlung der Hauptstadtzulage durchzusetzen. | |
Für die Arbeitskämpfe der kommenden Jahre kristallisiert sich damit die | |
Sparpolitik als Haupthindernis heraus. „Das Goldene Kalb der Schuldenbremse | |
darf nie zum Primat der Politik werden, vor allem dann nicht, wenn die | |
sozialen Bedarfe der Stadt steigen“, kritisiert Asch. | |
„Da braucht es Intervention in die Bundespolitik“, stimmt auch | |
Verdi-Sprecher Kalle Kunkel zu. Die Bundestagswahlen im Februar böten einen | |
Angriffspunkt, um gegen die Schuldenbremse vorzugehen. Verdi werde die | |
Bündnisbildung rund um den Protest gegen die Kürzungen verstärken. | |
Absehbar ist, dass Arbeitskämpfe zunehmend politischer werden, soweit es | |
das restriktive deutsche Streikrecht erlaubt. Ein Vorgeschmack darauf | |
lieferte der jüngste Warnstreik der GEW, der zwar inhaltlich auf den | |
Tarifvertrag Gesundheitsschutz fokussiert war, zeit- und ortsnah aber mit | |
den Kürzungsprotesten vor dem Abgeordnetenhaus organisiert wurde. | |
Gewerkschafter Markus Hanisch ist sich sicher: „Es ist nicht Geld das | |
fehlt, sondern der politische Wille.“ | |
27 Dec 2024 | |
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[2] https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/bvg-in-berlin-warum-ab-jan… | |
## AUTOREN | |
Jonas Wahmkow | |
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