| # taz.de -- Migrantenkinder in Russland: Wer kein Russisch spricht, fliegt | |
| > In Russland verwehrt ein neues Gesetz bestimmten Kindern den Schulbesuch. | |
| > Zum Glück gibt es private Initiativen, die für Ausnahmen sorgen. | |
| Bild: Anna Orlowa und das Projekt „Wanderkinder“ | |
| Wenn Anna Orlowa ihre Balalaika auspackt und die ersten Töne erklingen, | |
| singen die fünf Kinder um sie herum lauthals mit. Der achtjährige Alidschon | |
| schlägt dabei begeistert aufs Tamburin, die sechsjährige Amina bewegt zwei | |
| Maracas hin und her. | |
| Ihr „[1][c]“, das russische Neujahrslied schlechthin, hallt durch die engen | |
| Gänge, selbst der Wachmann am Eingang grinst. Winterfeiertagsstimmung in | |
| der Schule „Arche des 21. Jahrhunderts“ im Moskauer Vorort Krasnogorsk. | |
| Draußen schneit es ununterbrochen. | |
| Seit den 1990ern will das Privatlyzeum keine „langweilige Schule“ sein. Es | |
| hat kleine Klassen, finanziert sich durch hohes Schulgeld, bietet | |
| individuelle Betreuung, Spanisch und Englisch und viel Handwerk an. Hier | |
| sollen die Kinder ihre Interessen kennenlernen, sie vertiefen, schlicht sie | |
| selbst sein. | |
| Alidschon, Amina, Angelina und die beiden Brüder Saidschon und | |
| Jussufdschon, die im Raum 8.5 vor Anna Orlowa sitzen, kommen stets am | |
| Samstag hierher, es ist nicht ihre Schule, und sie ist es doch. Hier singen | |
| sie russische Volkslieder, lernen russische Grammatik, neue russische | |
| Wörter. Nein, „einhüllen“ sei nicht dasselbe wie „zudecken“, und „F… | |
| klinge ganz anders als „Süßigkeiten“, sagt die resolute Folklorelehrerin | |
| und erzählt ihnen, dass sie als Kind in diesem Lied ebenfalls so einige | |
| Wörter falsch verstand. Die fünf lachen und singen freudig weiter. | |
| ## „Nicht genügend“ Russisch | |
| Fast alle, die an diesem Tag in der Arche in den kleinen Klassenräumen | |
| sitzen, manche tief über ihre Hefte gebeugt, andere im Stuhlkreis, kommen | |
| aus Tadschikistan. Sie sind Kinder von Arbeitsmigrant*innen in | |
| Russland. Kinder, die das russische Parlament aus russischen Schulen | |
| ausschließen will. | |
| Könne ein Kind „nicht genügend“ Russisch, werde es nicht „zur Schulbild… | |
| zugelassen“, heißt es in einem neuen Gesetz, das die Duma in der | |
| vergangenen Woche angenommen hatte, nur ein Abgeordneter von 410 hatte | |
| dagegen gestimmt. Dass damit die russische Verfassung missachtet wird und | |
| auch die Genfer Kinderrechtskonvention, interessiert die | |
| Parlamentarier*innen herzlich wenig. | |
| Sie befolgten „nur den Volkswillen“, sagte der Duma-Sprecher Wjatscheslaw | |
| Wolodin noch vor der Abstimmung, Debatten dazu gab es, wie so oft in der | |
| russischen Duma, nicht. Unter seinem Telegram-Post zur Annahme des Gesetzes | |
| liest sich der „Volkswille“ – in tausendfachem Mitteilungsbedürfnis – … | |
| etwa so: „Endlich verschwinden diese Kakerlaken aus unseren Schulen. Auch | |
| ihre Eltern müssten wir aus unserem Land schmeißen.“ | |
| ## Mehmets und Islams | |
| Oder sogar so: „All diese Mehmets und Islams stören den Bildungsprozess | |
| unserer Wanjas und Saschas. Sie bringen das Lernen zum Erliegen, | |
| schikanieren unsere Kinder. Wir wollen unter uns leben, nicht unter | |
| Fremden.“ Anna Orlowa schüttelt auf dem Sofa in der Arche den Kopf und | |
| sagt: „Faschisten.“ Sie leitet das Projekt „Wanderkinder“, das sich im | |
| Russischen nach dem Namen für „Zugvögel“ gebildet hat. | |
| Gerade einmal vier [2][Hilfsorganisationen für Migrantenkinder gibt es in | |
| Moskau] und im Moskauer Umland, viel zu wenig, um Kindern mit | |
| Schwierigkeiten im Russischen zu helfen. Ohnehin müsste das | |
| Bildungsministerium dafür sorgen, dass Kinder, egal, wo sie herkommen, | |
| nötige Sprachkenntnisse erlangen. Es müssten Förderprogramme her, | |
| Willkommensklassen in den Schulen. | |
| „Doch bei uns wird erst ein Aussonderungsgesetz gemacht und dann geschaut, | |
| was damit nun werden soll. Und was soll aus den Kindern werden, denen die | |
| Schultür vor der Nase zugemacht wird? Sie sind ja da. Sie werden nicht | |
| einfach so verschwinden, nur weil man sie nicht im Klassenraum haben will“, | |
| sagt Anna Orlowa. | |
| Auch andere Pädagog*innen und Psycholog*innen, die meisten von ihnen | |
| seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine aus Russland emigriert, | |
| verweisen auf die Erfahrung anderer Länder mit anderssprachigen Kindern, | |
| sprechen von Segregation, von Nazismus, Rechtsentzug für Kinder, Anstiftung | |
| zum Hass, die sich im neuen Gesetz äußerten. | |
| Zudem: Was sei mit den Kindern, die zwar die russische Staatsbürgerschaft | |
| haben, aber dennoch kaum Russisch beherrschten? Auch ihnen werde in | |
| russischen Schulen selten geholfen. | |
| ## Nicht sonderlich willkommen | |
| Wo und wie die Kinder „mit ungenügenden Russischkenntnissen“ getestet | |
| werden sollen, wo sie Russisch lernen sollen – das steht nicht im Gesetz. | |
| Das steht auch sonst nirgendwo. Die migrantischen Familien, in Russland | |
| nicht sonderlich willkommen, stets rassistisch angegangen, sind auf sich | |
| allein gestellt – und auf die Ratschläge der anderen. | |
| So klingelt an diesem Samstag eine Familie, auch sie aus Tadschikistan, mit | |
| drei Kindern am Eingang der Arche. Anna Orlowa geht auf die neun- und | |
| zwölfjährigen Jungen zu, fragt sie nach Namen, Alter, Schulerfahrung. Die | |
| beiden in den schwarzen Winterjacken schauen verschreckt um sich herum, | |
| beantworten die Fragen. | |
| „Mittlere Gruppe“, ruft Anna Orlowa durch den Gang. „Geht da mal schnell | |
| mit“, weist sie den Neuankömmlingen den Weg. Der Mutter lässt sie derweil | |
| erklären, wie sie ihre schulpflichtigen Söhne an einer Schule anmeldet. | |
| Seit Monaten sitzen sie in der Wohnung in der Nähe von Krasnogorsk, bislang | |
| sei es nicht gelungen, sie an einer russischen Schule unterzubringen – | |
| obwohl die beiden keine Probleme haben, sich auf Russisch zu verständigen. | |
| Die „Wanderkinder“ seien nun ihr Stückchen Hoffnung. | |
| Seit neun Jahren treffen sich in den Schulräumen des einstigen sowjetischen | |
| Kindergartengebäudes Kinder ab 3 bis 18 Jahren, um Russisch zu lernen. | |
| Nicht selten lernen auch die Eltern mit. Fast alle von ihnen kommen aus | |
| Zentralasien. Manche können kein Wort Russisch, wenn sie vor Anna Orlowa | |
| stehen, andere kommen, um in den Russischarbeiten ihrer Schulen weniger | |
| Fehler zu machen. | |
| Das Wohltätigkeitsprojekt, das an der Arche angesiedelt ist, finanziert | |
| sich aus Spendengeldern und ist für die hilfesuchenden Familien kostenlos. | |
| Zwölf Lehrer*innen aus umliegenden Schulen, Student*innen und | |
| Doktorand*innen sind es, die hier für wenig Geld in ihrer Freizeit | |
| unterrichten. | |
| Samstags treffen sie sich für drei Stunden in Krasnogorsk, sonntags und | |
| donnerstags in zwei Moskauer Bibliotheken. Daneben gibt es Onlinekurse. 350 | |
| Kinder betreut das Hilfsprojekt derzeit. Die meisten von ihnen besuchten | |
| bereits russische Schulen, 55 aber hockten zu Hause, keine Schule im | |
| Umkreis habe sie bislang angenommen, erklärt Anna Orlowa. | |
| ## Es fehlen Papiere | |
| Es ist grundsätzlich nicht einfach, Kinder aus anderen Ländern an | |
| russischen Staatsschulen anzumelden. „Kein Platz“, ist die Ausrede der | |
| Schuldirektor*innen oft. Manchmal fehlen Papiere, die migrantische | |
| Familien einfach nicht haben, ihr Aufenthaltsstatus ist unklar oder | |
| entspricht nicht dem, was russische Behörden als „Langzeitaufenthalt“ | |
| betrachten. | |
| Russland hat die Kinder aus migrantischen Familien jahrelang ignoriert, hat | |
| so getan, als kämen die Männer und Frauen aus Zentralasien – sie brauchen | |
| kein Visum für Russland – nur, um auf den Baustellen und in der | |
| Gebäudereinigung zu schuften, Taxi zu fahren und zu kellnern und dann | |
| wieder zu verschwinden. Dass die Menschen seit Jahren in Russland leben, | |
| wollen viele im Land nicht wahrhaben, sie bezeichnen sie als | |
| „Schwarzärsche“, als „Heuschrecken“, verbieten ihren Kindern, „mit d… | |
| Gesocks“ zu spielen. | |
| Wie viele andere Länder auch ist Russland auf Arbeitskraft aus dem Ausland | |
| angewiesen. Statistiken, wie viele Kinder aus Zentralasien und anderen | |
| Ländern in Russland leben, gibt es nicht. Das Bildungsministerium geht | |
| davon aus, dass etwa 209.000 Migrantenkinder russische Schulen besuchten. | |
| Wie viele es nicht schaffen, an russischen Schulen angemeldet zu werden, | |
| weiß niemand. | |
| „Als ich vor zwei Jahren hierherkam, sprach ich kein Wort Russisch“, sagt | |
| das elfjährige „Wanderkind“ Aischa. An der Tafel in der Arche stehen | |
| Satzglieder, die sie und die anderen vier Kinder ihrer Gruppe – aus | |
| Tadschikistan und der [3][Republik Moldau] – mit der Russischlehrerin Olga | |
| Komarnizkaja üben. Aischa verpasst kaum eine Stunde. „Hier bin ich auch | |
| okay, wenn ich einen Fehler mache.“ | |
| Es sei vor allem die russische Grammatik, die den Kindern zu schaffen | |
| mache, sagt Komarnizkaja und streicht den Dativ bei Aischa an. Die | |
| Schülerin schreibt noch schnell den Satz ab und läuft hinaus. Mittagspause. | |
| 18 Dec 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.youtube.com/watch?v=ejgYsk_nYJg | |
| [2] https://www.osteuropahilfe.ch/laender/russland/uebersicht/ | |
| [3] /In-Gagausien-herrscht-die-Nostalgie/!6046285 | |
| ## AUTOREN | |
| Inna Hartwich | |
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