# taz.de -- Der Regisseur Sohrab Shahid Saless: Fremd im eigenen Leben | |
> Der iranische Regisseur Sohrab Shahid Saless arbeitete einige Jahre im | |
> deutschen Exil. Sein Wegbegleiter Bert Schmidt erinnert an ihn mit einem | |
> Buch. | |
Bild: Wie wir gelebt haben und in welche Löcher wir gefallen sind, davon wollt… | |
Der „große Unbekannte des Neuen Deutschen Films“ (Literaturkritik.de) oder | |
„Shahid Saless: der unbekannte Weltengänger“ (Iran Journal), das sind | |
Zuschreibungen, die dem iranischen [1][Regisseur Sohrab Shahid Saless] bis | |
heute anhaften. | |
Als seine noch im Iran gedrehten Spielfilme „Ein einfaches Ereignis“ (1973) | |
und „Stilleben“ (1974) bei der Berlinale gefeiert und ausgezeichnet wurden, | |
hat ihn das in der BRD so bekannt gemacht, dass er – seit 1974 im | |
westdeutschen Exil – bis 1991 dreizehn Spiel- und Dokumentarfilme | |
realisieren konnte, die meisten zusammen mit westdeutschen Fernsehsendern. | |
Bert Schmidt, wie Saless Absolvent der Pariser Filmschule Conservatoire | |
Indépendant du Cinema Français, wurde erstmals auf ihn aufmerksam, als er | |
dessen in Westberlin gedrehten Film „In der Fremde“ (1974) im | |
Berlinale-Wettbewerb sah. | |
„Alles, was wir tun, ist politisch, aber wenn man davon ausgehen würde, | |
dass die Zeit, in der wir leben, dokumentarisch aufgezeichnet werden | |
müsste, damit man später von unserem Leben das Wesentliche erfahren könnte, | |
so will ich in meinem Film zeigen, wie wir gelebt haben und in welche | |
Löcher wir gefallen sind.“ Das schrieb Saless zu „Tagebuch eines Liebenden… | |
(1976), und das kann auch als Motto über all seinen Werken stehen. | |
In seinen Beobachtungen geht es häufig um Außenseiter, die mit den | |
unerbittlichen Regeln des Mainstreams konfrontiert sind und dadurch Fremde | |
im eigenen Leben werden. Nachhaltig beeindruckt von Saless’ sezierendem | |
Blick auf den Alltag seiner aus der Rolle gefallenen oder gedrängten | |
Figuren, besuchte Bert Schmidt ihn 1978 bei den Dreharbeiten zu „Die langen | |
Ferien der Lotte H. Eisner“, einem Dokumentarfilm über die Berliner | |
Filmhistorikerin Lotte Eisner, die 1933 vor den Nazis nach Paris geflohen | |
war. | |
Sohrab und Bert hatten sich dabei angefreundet, und als sein Film fertig | |
war, quartierte er sich in dessen Frankfurter Studio ein. Stopp, an dieser | |
Stelle unterbreche ich, denn ich habe mir vorgenommen, Berts Buch vom Ende | |
her zu besprechen. | |
## In Deutschland keinen Platz mehr gefunden | |
Nach dem Film „Rosen für Afrika“ (1991), der auf der gleichnamigen | |
Romanvorlage von Ludwig Fels beruht, konnte Saless keinen seiner Stoffe | |
mehr realisieren. Im marktwirtschaftlich vereinigten, nach Kohls Pfeife | |
tanzenden Deutschland war für den überzeugten Sozialisten kein Platz mehr. | |
Zuletzt wohnte er bei Bert und seiner Partnerin Lucie Herrmann in | |
Frankfurt. Zum Abschied hinterließ er ihnen einen Zettel, auf dem in | |
fahriger Schrift geschrieben stand: „4.09.91 – HERZLICHEN DANK FÜR ALLES, | |
VOR ALLEM KOST UND LOGIS UND AUF DEN SPASS ZWEI SCHNÄPSE – EUER STÖRFAKTOR | |
SOHRAB.“ | |
Sohrab Saless zog erst nach Berlin und von da weiter in die USA zu seinen | |
Brüdern – um dort zu sterben. Ohne „… dieses Surren des Filmmaterials du… | |
die Kamera hören“ konnte und wollte er nicht mehr leben. | |
In den Schlusskapiteln „Film im Kopf – Zeit – Raum“ führt Schmidt | |
detailliert aus, wie der Regisseur eine Einstellungsfolge baut, Skizzen für | |
das Team anfertigt mit den Positionen der Schauspieler, der Kamera, der | |
Auflösung in Totale, Halbnah und Nahaufnahme. Selten macht er Mastershots | |
und nur in der Totale. Er verwendet eine Lichtgestaltung, die für Tag und | |
Nacht taugt, die „natürlich“ sein und bei der das Licht nicht „schneien�… | |
soll. | |
## Filmzeit und gefilmte Zeit | |
Die Bildgestaltung ist beobachtend, ohne ausgefallene Kameraperspektiven | |
und ohne subjektive Kamerabewegungen. In der Montage arbeitet er ohne | |
Jumpcuts, ohne Eisensteins „Montage der Attraktionen“ und ohne den | |
„Invisible Cut“ Hollywoods, vom Rhythmus her der alten Welt verhaftet, oft | |
verstörend langsam. Filmzeit und gefilmte Zeit sind oft identisch, eine | |
Methode, die Esther Kinski mit „Sehen als Willensakt“ umschreibt. | |
Zurück auf Anfang. Bert Schmidt eröffnet sein Buch mit der amüsanten | |
Schilderung einer USA-Reise, die er mit Saless im Oktober 1979 gemacht hat. | |
Ron Holloway, Filmkritiker von Variety und ein Liebhaber des deutschen | |
Kinos, hatte zusammen mit dem Goethe-Institut die Retrospektive „New German | |
Cinema“ organisiert, in der Filme von Achternbusch, Brandner, Cleve und | |
Saless gezeigt wurden, die in San Francisco und L. A. auf höfliches | |
Interesse stießen. | |
In Hollywood gab es Begegnungen mit Coppola, Herzog und Wenders, und in | |
Venice besichtigten sie das Viertel mit den Kolonnaden, wo Orson Welles die | |
legendäre Anfangsszene von „Touch of Evil“ (1958) drehen ließ: eine | |
minutenlange Kranfahrt, die ein Pärchen in einem Straßenkreuzer verfolgt, | |
der kurz nach der Passkontrolle auf mexikanischer Seite durch eine im | |
Kofferraum tickende Autobombe explodiert. Beim Antritt der Rückreise in New | |
York zeigte sich Saless von den USA wenig begeistert: „Hier möchte ich | |
nicht gestorben sein.“ | |
Jumpcut, zurück nach Frankfurt und dem Projekt „Aufstehen (Ordnung)“. Schon | |
vor der USA-Reise hatte Saless an Eckart Stein, den Begründer und | |
langjährigen Lenker der ZDF-Filmkunstredaktion „Das kleine Fernsehspiel“ | |
geschrieben: „Hier nun das versprochene Drehbuch. Sollte Ihnen oder Ihren | |
Mitarbeitern das Buch nicht gefallen, schicken Sie es bitte ohne Begründung | |
an mich zurück. Eine Begründung würde uns nicht weiterhelfen. Im November | |
soll es sehr kalt werden; ich könnte dann das Buch im Kamin verfeuern und | |
die Wärme genießen.“ | |
Berts Freund und Kollege Dieter Reifahrt hatte den Anstoß zu „Ordnung“ | |
(1980) gegeben. In der Sömmeringstraße, in der Dieter wohnte, lief jeden | |
Sonntagmorgen um 7 Uhr ein Mann durch die Straße mit dem Weckruf | |
„Aufstehen!“. Saless’ Reaktion, als er das hörte: „Aus dieser Geschich… | |
will ich mit Euch zusammen ein Drehbuch entwickeln.“ Gesagt, getan, und | |
Eckart Stein sagte zu. | |
## Der arbeitslose Herbert | |
Heinz Lieven verkörpert den arbeitslosen Bauingenieur Herbert, der sich | |
immer mehr ab- und einkapselt und auf eine Psychose zusteuert, die ihn am | |
Ende in eine Nervenheilanstalt bringt. Als er dort im Flur wieder sein | |
„Aufstehen!“ und dann „Auschwitz“ brüllt, wird er von Pflegern gewalts… | |
fixiert, mit Medikamenten sediert und nach „erfolgreicher Behandlung“ als | |
geheilt entlassen. 1970 hat Chargesheimer seinen Fotoband „Köln 5 Uhr 30“ | |
gemacht, der eine menschenleere Asphalt- und Betonwüste zeigt. Saless’ | |
Blick auf Frankfurt ist ganz ähnlich. Psychosen sind politisch, daran lässt | |
sein Film keinen Zweifel. | |
Zu den Dreharbeiten von „Ordnung“ und sechs weiteren Filmen, an denen er | |
beteiligt war, hat Bert Schmidt ein reich bebildertes Abc des filmischen | |
Handwerks – eine Rarität in der Filmliteratur – zusammengetragen. | |
Er spricht mit dem Oberbeleuchter Sigi Gierich über die Zusammenarbeit mit | |
dem Kameramann Ramin Molai, befragt Tonmeister, Ausstatterin, | |
Schauspielerin, Cutterin, Drehbuchautor und Rechtsanwalt, die alle kein | |
Blatt vor den Mund nehmen und die kleinen und großen Katastrophen | |
kommentieren, die bei Drehs mit kleinem Budget, unter Zeitdruck, mit einem | |
Koproduzenten in der ČSSR, oder schlicht unter widrigen Wetterbedingungen | |
stattfinden. | |
Es geht um Kodak vs. ORWO, um Laufschrammen, fehlenden Graufilter und | |
Unschärfen. Schmidt selbst musste drei Tätigkeiten parallel ausführen: „Ich | |
war erstens Regieassistent, musste zweitens den Primärton mit einem kleinen | |
Kassettengerät aufnehmen und drittens Standfotos schießen. […] Saless | |
hatte, ähnlich wie Herbert Kerz (Produktionsleiter), die Allüren eines | |
unerbittlichen Antreibers. Nach dem Ende der Dreharbeiten schwor ich mir, | |
‚Nie wieder bei einer solchen Filmproduktion!‘, und vor allem ‚Nie wieder | |
mit Saless, dem Despoten‘ zu arbeiten. Später entschuldigte er sein | |
Verhalten mir gegenüber. Ich sei neben Ramin Molai der einzige im Team | |
gewesen, dem er vertrauen konnte. Die Vertrauten könne man eben anschreien, | |
dann habe das restliche Team mehr Respekt.“ | |
An der Montage mehrerer Filme zeigt Schmidt (der selbst ein exzellenter | |
Editor ist) auf, wie Saless die verrinnende Zeit physisch erfahrbar macht: | |
durch das Zeigen arbeitsteilig-monotoner Arbeit an einer Metallstanze in | |
„In der Fremde“ (1975), durch den fast zweiminütigen Zoom auf das | |
Gardinenfenster eines tristen Wohnblocks am Anfang von „Tagebuch eines | |
Liebenden“ (1977) oder durch den ländlich-monotonen Alltag des alternden | |
Mühlenknechts in „Der Weidenbaum“ (1984). | |
## Stilsichere Ökonomie | |
Anhand von kommentierten Stills stellt er minutiös dar, mit welch | |
stilsicherer Ökonomie Saless in der Exposition von „Hans – Ein Junge in | |
Deutschland“ (1983) den Ort, die Wohnung des früh erwachsenen Jungen Hans, | |
seiner durch rassistisches Mobbing paralysierten Mutter, der zum Sterben | |
bereiten Großmutter (im allen drei gemeinsamen Bett) und die Zeit, ein Land | |
im Kriegszustand, etabliert. Die Cutterin Gabriele Rosenhagen, die ihre | |
Anfänge schon in der Ufa-Zeit hatte, war voller Begeisterung: „Endlich | |
jemand, der weiß, was er will und wie man filmisch erzählt.“ Auf dieser | |
Fähigkeit gründete auch Saless’ guter Ruf. Filmfestivals in Berlin, Cannes, | |
Chicago, London und Teheran haben seine Filme gezeigt und prämiert. | |
Was macht das Buch mit dem Untertitel „Film im Kopf“ so einzigartig? Hier | |
setzt sich ein Cineast und Praktiker mit einem Regisseur und dessen oft | |
kompromissloser Haltung auseinander, und er spricht mit Praktikern, die ihr | |
filmisches Handwerk kommentieren. Diese Zusammenschau macht den komplexen | |
Herstellungsprozess eines Films sinnlich erfahrbar. | |
Das Buch ist aber auch ein opulenter Bildband. Da Schmidt als | |
Regieassistent nicht nur am Set, sondern in gleichem Umfang auch an der | |
Motivsuche und an den Teambesprechungen beteiligt war, konnte er mit seiner | |
Kamera das Making-of eines Films von der Drehvorbereitung bis zum | |
Gruppenbild nach der Schlussklappe lückenlos dokumentieren, eingeschlossen | |
die zahlreichen Einrichtungs- und Umbauphasen, in denen ein Teil des Teams | |
wartet … und wartet. | |
Mein sentimental favorite ist ein Foto von der USA-Reise 1979: | |
[2][Achternbusch] kniet auf einem Studio-Parkplatz hinter einem hellblauen | |
Pontiac und wischt den Straßenstaub ab von einer Schablonenschrift in Weiß: | |
„3201 J LEWIS“. Von Jerry Lewis war seit sieben Jahren kein Film mehr ins | |
Kino gekommen. Die Dreharbeiten zu „The Day the Clown Cried“ (1972) hatte | |
er drei Tage vor Drehschluss abgebrochen. | |
18 Dec 2024 | |
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## AUTOREN | |
Rainer Komers | |
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