| # taz.de -- Ein Jahr der Rückschritte: Chanukkas Lichter und der Glaube an den… | |
| > Oft hat unsere Kolumnistin Groll empfunden in diesem Jahr. Manches, über | |
| > das sie sich früher erregte, trifft sie aber nicht mehr so hart wie | |
| > gewohnt. | |
| Bild: Am 7. Dezember 2023 brennt die erste Kerze des Chanukka-Leuchters am Bran… | |
| Vor ein paar Wochen hatte ich eine merkwürdige Begegnung. Am Fahrstuhl in | |
| der Jüdischen Gemeinde in der Oranienburger Straße in Berlin sprach mich | |
| eine ältere, zierliche Frau an, als wären wir alte Bekannte. „Sie sprechen | |
| Russisch?“, versicherte sie sich bei mir und fuhr gleich fort, ohne meine | |
| Antwort abzuwarten. | |
| Sie fragte, woher ich denn käme. „Aha, Moldau, Transnistrien, verstehe“, | |
| sagte sie, ob mir denn Berlin, ob mir Deutschland gefalle? Ich sagte, „ja, | |
| schon“, und war just in dem Moment nicht sicher. [1][Alles besser als | |
| Transnistrien], zwinkerte sie mir zu. Und da hatte sie natürlich recht. | |
| Wir stiegen in den Fahrstuhl und ich fragte, in welchem Stockwerk sie | |
| aussteigen müsse. „Zweites“, sagte sie, „Sozialabteilung“. Ich nickte | |
| wissend. Viele ältere Juden [2][leben in Deutschland in Armut] und gehören | |
| mit ihren Bedarfen in den Sozialabteilungen der Gemeinden quasi zum | |
| Inventar. Kurz bevor die Frau dann ausstieg, sagte sie noch, dass es schon | |
| immer schwer gewesen sei für sie in Deutschland nach ihrer Einwanderung, | |
| aber seit einem Jahr, sagte sie noch, seit einem Jahr sei es ja alles noch | |
| viel schwieriger. Wir blickten uns an, ich verstand, und bevor ich etwas | |
| erwidern konnte, war sie auch schon aus dem Fahrstuhl verschwunden. | |
| Ich habe lange über diese Begegnung nachgedacht. Meine Generation, ich, | |
| sollte es mal besser haben in Deutschland. In Frieden und Wohlstand leben | |
| können. Ich würde sagen, dieser Wunsch hat sich erfüllt. Und doch hat sich, | |
| wie die Frau aus dem Fahrstuhl anmerkte, in diesem Jahr eine Schwere über | |
| die jüdische Gemeinschaft gelegt. | |
| ## „Antikolonialer Friedens-Weihnachtsmarkt“ | |
| Für das jüdische Leben war 2024 wohl ein Jahr der Rückschritte, der | |
| Bedrohung. | |
| Ich habe in diesem Jahr oft einen Groll empfunden, eine Verzweiflung, die | |
| mir bis dahin nicht bekannt waren. Der „Verlust von Weltvertrauen“, von der | |
| politischen Heimat, eine erlebte Kälte, Radikalisierung, Empathielosigkeit, | |
| sind so tiefgreifend – und bis heute für mich nicht ganz zu fassen. | |
| Und dann ist da noch die andere Seite: Dinge, die einen vor einem Jahr | |
| tierisch aufgeregt haben, jucken einen heute nicht mehr, die nimmt man | |
| plötzlich achselzuckend zur Kenntnis, so ungefähr sagte das die | |
| Schriftstellerin Dana von Suffrin vor einer Weile bei einer Lesung. | |
| Ich musste daran denken, als ich in dieser Woche las, dass auf einem | |
| „antikolonialen Friedens-Weihnachtsmarkt“ einer Darmstädter Kirchengemeinde | |
| antisemitisches Material und Hamas-Kennzeichen verkauft wurden. Rote | |
| Dreiecke, Palästinakarten ohne Israel, solche Dinge. | |
| ## Abgestumpft nach einem Jahr wie diesem | |
| Die Jüdische Gemeinde hat Strafanzeige erstattet. Verständlich. Mich hat | |
| dieses Debakel allerdings eher belustigt: Die Vorstellung, wie sich | |
| Besucher des Weihnachtsmarktes mit einem Tässchen Glühwein in der Hand | |
| interessiert Schlüsselanhänger mit Hamas-Dreiecken und Lebkuchen mit der | |
| Aufschrift „Never again for everyone“ angesehen haben, ist so absurd, dass | |
| ich nur darüber lachen kann. | |
| Vor einigen Monaten hätte mich dieser Antisemitismus noch aufgeregt. Aber | |
| heute? Wahrscheinlich stumpft man nach einem Jahr wie diesem eben ab. | |
| Ich resümiere: Die Dinge gehen genauso weiter wie bisher. Was gestern | |
| unerträglich war, ist auch morgen noch unerträglich. | |
| Bald beginnt das jüdische Lichterfest [3][Channuka], ein Fest der Wunder. | |
| Das Licht, das entzündet wird, erinnert an die Hoffnung in dunklen Zeiten. | |
| Ich bin nicht religiös, ich glaube nicht an Wunder. Aber an den Menschen, | |
| an den glaube ich. An seine Widerständigkeit, seine Kraft, weiterzumachen. | |
| Ich glaube daran, dass nichts von Dauer ist. Dass das Unerträgliche | |
| vielleicht unerträglich bleibt und wir es in Anekdoten verarbeiten, die wir | |
| uns erzählen, die uns zum Lachen bringen. Gibt es einen besseren Trost? | |
| 23 Dec 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Erica Zingher | |
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