# taz.de -- „Edgy sein“ im Wahlkampf: Wenn eine Wahl als Tanz am Abgrund ve… | |
> Wer gerade ein neues 1933 heraufziehen sieht, verharmlost den | |
> Nationalsozialismus. Demonstrieren gegen rechts ist trotzdem richtig. | |
Bild: Für eine bessere Zukunft: junge Menschen auf einer Fridays-for-Future-De… | |
Man wünscht sich fast die Zeit zwischen den Jahren zurück, diese | |
merkwürdigen Tage zwischen Weihnachten und Neujahr, in denen kollektiv die | |
Klappe gehalten wird. Der Mund ist voll mit den letzten Lebkuchen oder der | |
Kopf durch zu viel Glühwein so schwer, dass ernsthafte Gedanken kaum noch | |
Platz finden. | |
Die vergangenen Wochen, den Bundestagswahlkampf, habe ich jedenfalls so | |
erlebt, als hätte jemand das Radio zu laut aufgedreht. Ich kann es nicht | |
herunterdrehen und bin gezwungen, den ganzen Tag zuzuhören, wie sich | |
Politiker, Aktivisten, Moderatoren und Demonstranten durcheinander | |
anschreien. Aufgebracht, wütend, ängstlich, bedrohlich. | |
Als Tanz am Abgrund wird die kommende Bundestagswahl von allen Seiten | |
[1][verkauft.] Die einen sehen sie als letzte Chance, bevor Deutschland in | |
den Faschismus abrutsche, und wähnen sich damit gar als Widerstandskämpfer, | |
die anderen fantasieren von der alleinigen Macht und sehen die Aufgabe | |
ihrer Partei als „[2][historische Mission]“ – wie Thüringens AfD-Chef Bj… | |
Höcke vor Jahren formulierte. | |
Nie war es wichtiger, ein anständiger Bürger zu sein, heißt es, um die | |
Brandmauer nach rechts zu schützen. Manche dieser „Anständigen“, die sich | |
Anfang Februar in vielen deutschen Städten zu Demonstrationen zum „Aufstand | |
der Anständigen“ versammelten, nahmen ihre Bürgerpflicht gleich so ernst, | |
ein CDU-Verbot zu fordern, Büros zu belagern und [3][zu beschädigen] oder | |
eine Sicherheitslage zu schaffen, sodass Mitarbeiter der Parteizentrale | |
in Berlin vorzeitig nach Hause geschickt wurden. | |
## Welche Sorge ich teile | |
Um es mit den Worten des ehemaligen SPD-Generalsekretärs Kevin Kühnert zu | |
sagen, vorgetragen in seiner letzten Rede diese Woche im Bundestag: „Nein, | |
Union und FDP sind keine Faschisten.“ Das macht die von CDU-Chef Friedrich | |
Merz initiierte Aktion, sich mit AfD-Stimmen eine Mehrheit zu verschaffen, | |
nicht weniger dramatisch und gefährlich. | |
Ich verstehe die Sorge vor einer Zusammenarbeit mit der AfD während einer | |
Kanzlerschaft von Friedrich Merz. Ich teile diese Sorgen. | |
Manchmal bin ich ratlos. Oft graut es mir vor der Zukunft. Es ist einfach, | |
in einer Kolumne über andere zu urteilen, während man selbst gemütlich am | |
Schreibtisch sitzt. Deshalb möchte ich eines klarstellen: Es ist | |
lobenswert, gegen einen Rechtsruck auf die Straße zu gehen und vor jeder | |
Normalisierung der AfD zu warnen. Verstehen Sie mich also nicht falsch, mir | |
ist der Ernst der Lage bewusst. | |
Wenn die AfD eines in diesem Wahlkampf geschafft hat, dann, dass sie die | |
Fähigkeit zur Differenzierung von der politischen Bühne verabschiedet hat. | |
## Emotionalisieren, draufhauen | |
Um sich von den Rechten abzugrenzen, versuchen auch die demokratischen | |
Parteien, Aktivisten und Zivilgesellschaft hin und wieder „edgy“ zu sein, | |
zu emotionalisieren, draufzuhauen. Was wirklich wichtig ist, gerät dabei | |
aus dem Blick. Differenziertheit in relevanten Themen zum Beispiel. | |
AfD-Chefin Alice Weidel und Elon Musk fallen mit krassem | |
Geschichtsrevisionismus auf: Weidel deutet Hitler ernsthaft zum Linken und | |
Kommunisten um; Musk fordert implizit den „Schlussstrich“ unter die | |
NS-Aufarbeitung. | |
Und manche Linke überziehen, behaupten ein neues 1933 und setzen Merz mit | |
den NS-Steigbügelhaltern von Papen und Hindenburg gleich. Auch das | |
verharmlost den Nationalsozialismus. Merz selbst und Noch-Kanzler Olaf | |
Scholz klingen auf der Zielgeraden vor der Wahl immer mehr wie verbitterte | |
Männer, die sich gegenseitig ankeifen. | |
Wir erleben einen Angriff von rechts außen auf die demokratische Gegenwart: | |
Eine wirkliche Vision, diesen Angriff zu bewältigen, und für eine bessere | |
Zukunft, für das gute Leben zu sorgen, vermisse ich bei allen anderen | |
Parteien. Dabei wäre genau jetzt die Zeit dafür. | |
16 Feb 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://www.spiegel.de/kultur/bundestagswahl-afd-auf-allzeithoch-die-unters… | |
[2] https://www.tagesspiegel.de/politik/gemutszustand-eines-total-besiegten-vol… | |
[3] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland/cdu-zentrale-attacke-afd… | |
## AUTOREN | |
Erica Zingher | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Demos gegen rechts | |
Schwerpunkt AfD | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
Kolumne Grauzone | |
Social-Auswahl | |
Kolumne Grauzone | |
Wladimir Putin | |
Kolumne Grauzone | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Nach dem Holocaust-Gedenktag: Spätes zu Wort kommen, unverzichtbares Analysier… | |
Warum konnte Klaus Kozminski erst mit 85 Jahre seine Geschichte erzählen? | |
Zum Verständnis hilft ein Blick auf die deutsche Erinnerungskultur. | |
Winter in Transnistrien: Selbst ohne Gas vertrauen sie auf Putin | |
Suppenküchen im Freien und geschlossene Schulen: In der Oligarchenrepublik | |
Transnistrien herrscht Energienotstand, weil Russland das Gas abgedreht | |
hat. | |
Ein Jahr der Rückschritte: Chanukkas Lichter und der Glaube an den Menschen | |
Oft hat unsere Kolumnistin Groll empfunden in diesem Jahr. Manches, über | |
das sie sich früher erregte, trifft sie aber nicht mehr so hart wie | |
gewohnt. |