# taz.de -- Ein Jahr 7. Oktober: Ich will unsere Wunden verstehen | |
> Die Gedichte von Chaim Nachman Bialik dokumentieren das Pogrom an Juden | |
> in Kischinjow. Für unsere Kolumnistin sind sie aktueller denn je. | |
Bild: Am Jahrestag des Massakers zeigt eine Frau auf Porträts von Opfern des N… | |
Zuerst war da Schock. Dann kam die Angst. Vor einem Jahr, am 7. Oktober | |
2023, als die Hamas-Terroristen Zivilisten abschlachteten und | |
verschleppten. Bis heute hat es von diesem Terror keine Pause gegeben. | |
Unzählige Geiseln sind noch in Gaza, und die genozidale Botschaft, die die | |
Hamas vor einem Jahr in die Welt sendete, wird seitdem von den angeblichen | |
Widerstandskämpfern im Westen am Leben gehalten. | |
Innerlich, so ist mir, sind wir Juden Stück um Stück seitdem zerbrochen. | |
Und da stehen wir nun, vor einem Scherbenhaufen, wundern uns, wie konnte | |
diese Welt nur so werden, und trotzdem machen wir weiter, buchstabieren für | |
die anderen Antisemitismus aus, A-N-T-I-S-E-M-I-T-I-S-M-U-S, und werden | |
doch nicht verstanden. | |
In dieser Woche stolpere ich wieder über die Gedichte von [1][Chaim Nachman | |
Bialik]. Einst wurde Bialik von einer jüdischen Kommission nach Kischinjow | |
entsandt, der heutigen Hauptstadt [2][Chișinău der Republik Moldau.] 1903, | |
am russisch-orthodoxen Ostersonntag, begann ein Mob von Christen, Juden | |
abzuschlachten. Zwei Tage lang zogen die Mörder durch die Straßen. | |
Sie riefen „Tod den Juden“, eine Parole, die die antisemitische Zeitung | |
Bessarabier kontinuierlich verbreitet hatte. Die Juden bezichtigte der Mob | |
des Mords an zwei Kindern. Die jüdische Gemeinschaft habe sie ermordet, um | |
ihr Blut für Ritualzwecke zu verwenden, hieß es. | |
## Das erste fotografisch dokumentierte Pogrom | |
Der Mob plünderte Häuser und Geschäfte oder verbrannte sie. Und der Rest | |
der Bevölkerung, die Polizei? Die schauten dabei zu. Die Bilanz des ersten | |
Pogroms gegen Juden im 20. Jahrhundert: Rund 50 Tote, Hunderte | |
vergewaltigte Frauen, unzählige andere verletzt. | |
Bis heute gilt das Pogrom von Kischinjow als das erste fotografisch und | |
journalistisch dokumentierte Pogrom an Juden in Europa. Bialik war einer | |
dieser Dokumentaristen. Auf Hebräisch verfasste er später zwei | |
eindrückliche Gedichte: Während [3][„Das Schlachten“] den ersten Schock | |
beschreibt und nach einer Reaktion auf das Grauen sucht („Nicht Rache!“), | |
liest sich sein zweites Gedicht ([4][„In der Stadt des Schächtens“]) wie | |
ein nie endender Albtraum. | |
Bialik transportiert darin das Gefühl von Hilflosigkeit und Verzweiflung, | |
er beschreibt die Passivität der anderen, aber auch der jüdischen Männer | |
selbst, die mitansehen, was ihren Frauen angetan wird, erstarrt vor | |
Todesangst. Bialik hat schon damals beschrieben, wie unwirklich es ist, | |
dass die Welt sich nach einem Pogrom weiterdreht: | |
„Der Garten hat geblüht, die Sonne hat geleuchtet, Und der Schächter hat | |
geschächtet(…) Und morgen steigt wie heute und wie gestern (…) | |
Die Sonne in der Fülle ihres Lichts | |
Und stille und als wäre nichts.“ | |
Bialik erzählt von Menschen, die an Balken aufgehängt, von anderen, die | |
zerspalten wurden, ehe man ihnen ihr Kind entriss. Wie lassen sich diese | |
Bilder verarbeiten? | |
„Und weit noch, viel furchtbare Geschichten, | |
Die löchern deinen Kopf, verbrennen dir den Sinn | |
Und töten dir auf ewig deine Seele. | |
Und du erstickst im Hals dein wildes Brüllen.“ | |
## Wunden verstehen | |
Warum ich das erzähle? Wir haben eine Pflicht zu verstehen. Das Pogrom von | |
1903, Bialiks Schilderungen, sind wie ein Vorbote auf nie endendes Leid, | |
das Juden wieder erleben werden: die Schoah und vor einem Jahr der 7. | |
Oktober. Ich will unsere Wunden verstehen, will wissen, warum sie uns | |
zugefügt wurden und immer wieder werden; warum Menschen so hasserfüllt sein | |
können, warum der autoritäre Geist sich hält. | |
Bialik verstummte nicht ob des Grauens. Auch er wollte verstehen. Über die | |
Toten, vielleicht auch die jüdische Welt nach dem Pogrom, schrieb Bialik | |
etwas, das auch heute Bedeutung hat: | |
„Sieh, das sind ganze Leben, ganze Leben, | |
Zerbrochene auf ewig wie ein Scherben!“ | |
11 Oct 2024 | |
## LINKS | |
[1] /!1767414/ | |
[2] /Debatte-ueber-Verhandlungen-mit-Russland/!6030802 | |
[3] https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/freimann/content/pageview/135066 | |
[4] https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/freimann/content/pageview/135535 | |
## AUTOREN | |
Erica Zingher | |
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