Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ein Jahr 7. Oktober: Immer noch in Geiselhaft
> Auf dem Nova-Festivalgelände sind Angehörige der Hamas-Geiseln in Trauer
> vereint. Über die Eskalationsstrategie Netanjahus ist man derweil
> uneinig.
Bild: Tel Aviv, Israel, 7. Oktober 2024: Gedenken an den Jahrestag des Hamas-Ü…
Tel Aviv taz | In der Morgendämmerung wummert der Beat über der Lichtung
des [1][Nova-Festivalgeländes] nahe der Grenze zum Gazastreifen im Süden
Israels. Um 6.29 Uhr am Montagmorgen bricht die Musik plötzlich ab – genau
wie vor exakt einem Jahr um diese Uhrzeit. Damals tanzten dort Hunderte
Partybesucher, als plötzlich Raketen flogen, Hamas-Terroristen an
Gleitschirmen aus Richtung Gaza auftauchten und das Feuer auf die Feiernden
eröffneten. Fast 400 Menschen wurden hier getötet. Ein Jahr später stehen
hier nun die Angehörigen der Opfer und Journalisten zusammen.
Eine Schweigeminute, unterbrochen nur durch den Klageschrei einer Frau. Ein
Schrei, der durch Mark und Bein geht. In der Morgendämmerung leuchten
Kerzen, wo vor einem Jahr die Tanzfläche lag. An Dutzenden Metallstäben
hängen Fotos der Opfer. Die spontan kurz nach dem Massaker errichtete
Installation ist ein Gedenkort geworden: Besucher haben weiße Steine,
Blumen und Briefe unter die Bilder gelegt.
Wie hier wurde am Montag an vielen Orten in Israel an den Hamas-Überfall
erinnert, bei dem rund 1.200 Israelis getötet und 250 in den Gazastreifen
entführt worden waren. Es war das schlimmste Massaker in der israelischen
Geschichte und der tödlichste Tag für Juden seit dem Holocaust. „Es ist
eine Narbe auf der Menschheit“, sagte der israelische Präsident Jizchak
Herzog beim Gedenken auf dem Nova-Gelände, wo der Krieg, der seitdem
zwischen Israel und der Hamas entbrannt ist, deutlich zu spüren ist: In
regelmäßigen Abständen wummert die israelische Artillerie, die auch ein
Jahr später noch den nur wenige Kilometer entfernten Gazastreifen
beschießt. „Wir müssen alles in unserer Macht stehende tun, um unsere
Geiseln zurückzubekommen“, sagte Herzog.
Doch ein Jahr nach dem Überfall hat sich die [2][Strategie der
militärischen Härte] – auf die Regierungschef Benjamin Netanjahu
unverdrossen setzt – zumindest mit Blick auf die Geiseln als weitgehend
erfolglos erwiesen. Nur acht Entführte konnte die Armee befreien, 105 kamen
durch Verhandlungen frei, 37 wurden tot geborgen. Stattdessen ist das Land
gespalten wie nie. Den Familien der Angehörigen schlägt für ihre Forderung
nach einem Abkommen zunehmend Hass entgegen.
Eine der bekanntesten Vertreterinnen der Angehörigen ist Einav Zangauker.
Bis Matan, der Sohn der alleinerziehenden Mutter, am 7. Oktober aus dem
Kibbutz Nir Oz in den Gazastreifen verschleppt wurde, war die 45-Jährige
eine treue Unterstützerin von Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.
Heute nennt die schmale Frau mit den dunklen Augen ihn einen „Lügner“, der
ihr Kind für seine politischen Interessen als Geisel genommen habe. „Halte
durch“, rief sie drei Wochen vor dem Jahrestag vor Zehntausenden
Demonstranten auf der Begin-Straße in Tel Aviv an Matan gerichtet. „Ich
schlafe mit dir ein und wache mit dir auf und ich werde alles tun, dass es
auch dem Regierungschef so geht, bis du wieder zu Hause bist.“
## Kein weiterer Geiseldeal in Sicht
Doch der Krieg ist nur noch weiter eskaliert, ein weiterer Geiseldeal nicht
in Sichtweite: Im Libanon explodierten Mitte September Tausende Pager in
den Taschen von Mitgliedern der proiranischen Hisbollah-Miliz – mutmaßlich
ein israelischer Geheimdienstangriff. Kurz darauf tötete die israelische
Armee [3][bei einem schweren Bombardement mitten in einem Wohngebiet] in
Beirut Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah. Am 1. Oktober feuerte Iran 181
Raketen auf Israel. Matan und die noch immer rund 100 anderen Geiseln
treten zunehmend in den Hintergrund.
Netanjahu habe sich für die „Eskalation der Region entschieden, und dafür,
die Geiseln zu opfern, um an der Macht zu bleiben“, sagte Zangauker
kürzlich bei einem Protest.
Mit ihrer Regierungskritik stand sie zusammen mit wenigen anderen Familien
lange alleine. Spätestens aber seit Anfang September Soldaten die Leichen
von sechs nur Stunden zuvor erschossenen Geiseln in Gaza fanden, ist ein
Großteil der Geiselangehörigen zu Regierungsgegnern geworden.
Die Kritiker werfen der Regierung vor, ihre Verantwortung für den 7.
Oktober herunterzuspielen. Die Geheimdienste und die Armee hatten die Hamas
unterschätzt, die Regierung das Land über ein Jahr lang mit Plänen zur
Schwächung des Obersten Gerichts politisch und gesellschaftlich gespalten.
## Keine Antwort von Netanjahu
„Das Blut klebt an Netanjahus Händen“, sagt Zangauker heute immer wieder in
Interviews. Auf Protesten prangt das Gesicht ihres Sohnes Matan auf ihrem
T-Shirt. Sie wisse, dass die Hamas einem Geiselabkommen im Juli zugestimmt
habe. Ihre schwarzen Haare rahmen ihr hageres Gesicht und die dunklen
Schatten unter ihren Augen.
Die ersten zwei Monate nach dem 7. Oktober verließ die dreifache Mutter aus
der Kleinstadt Ofakim im Süden Israels kaum das Haus. Auch in ihrer Stadt
töteten die Terroristen 53 Menschen. Vor allem aber hatte Zangauker Angst,
Matans Rettung zu gefährden, wenn sie öffentlich über ihren Schmerz
spräche: „Ich dachte damals, dass Netanjahu ihn zurückbringen würde.“ Na…
zwei Treffen der Angehörigen Anfang des Jahres mit Netanjahu sei sie
desillusioniert gewesen. Als sie ihn fragte, wie er Matan zurückbringen
wolle, habe sie keine Antwort bekommen.
Seitdem ging Zangauker Samstag für Samstag auf die Straße am Begin-Tor. Mit
jeder tot aus Gaza geborgenen Geisel kamen mehr Menschen vom Museumsplatz
herüber. Doch die Entscheidung der Geiselfamilien, sich gegen die Regierung
zu stellen, ist ein Balanceakt. Ein Jahr nach dem 7. Oktober hat schon
alleine die Forderung nach einem Geiselabkommen explosiven Charakter in
Gesprächen zwischen Israelis. Netanjahu hat diese Entwicklung zum Teil
selbst befeuert, indem er den Demonstranten mehrfach vorwarf, der Hamas in
die Karten zu spielen.
## Gerne mit Sturmgewehr unterwegs
Auch innerhalb des Forums gibt es Gegner eines Abkommens. Sie sammeln sich
vor allem im Tikwa-Forum. Dessen Mitgründer Tzvika Mor, öffentlich gerne
mit Sturmgewehr unterwegs, glaubt, es brauche mehr militärischen Druck, um
die Geiseln zu befreien. Die Sicherheit des Landes sei wichtiger, als das
Leben seines Sohnes, sagte der achtfache Vater aus der extremistischen
Siedlung Kiryat Arba im Westjordanland wiederholt in israelischen Medien.
Wie viele Familien das Tikwa-Forum vertritt, ist unklar. Mitglieder
sprechen von rund 30, Vertreter des Familienforums hingegen von nur sechs
Geiselfamilien in der Tikwa-Gruppe.
Am Montag fanden über den Tag verteilt mehrere getrennte Gedenken im Land
statt. Die Angehörigen der Geiselfamilien hatten für den Abend eine eigene
Gedenkveranstaltung im Yarkon-Park in Tel Aviv organisiert. Die
Teilnehmerzahl von ursprünglich 40.000 war wegen der drohenden Eskalation
mit Iran und dem Krieg im Libanon auf 2.000 begrenzt.
Nicht umsonst, wie am Montagmittag deutlich wurde. Um 10.59 Uhr heulte in
Tel Aviv der Luftalarm, als fünf Raketen aus dem Gazastreifen auf Tel Aviv
geschossen wurden. Zwei Menschen wurden von herabfallenden Trümmern der
abgefangenen Geschosse verletzt.
Trotz einem Jahr massiver Bombardements und trotz der aktuell laufenden
erneuten Bodenoffensive der Armee im Norden des Gebietes, sind militante
Hamas-Kämpfer noch immer in der Lage, Angriffe zu starten. Indes rücken
israelische Soldaten in den Süden des Libanon vor, wo gegen die Hisbollah
ein ähnliches Szenario droht. Der nun drohende Gegenschlag Israels wegen
des iranischen Raketenangriffs vergangene Woche könnte die Region vollends
in einen großen Krieg stürzen.
„Netanjahu tut alles, damit dieser schreckliche Krieg nicht endet“, sagt
Yotam Cohen, der Bruder des in Gaza gefangenen 20-jährigen Nimrod Cohen.
„Wir haben einfach alles probiert“, sagt der 23-Jährige mit der schmalen
schwarzen Brille. „Mahnwachen, Social-Media-Kampagnen, internationale
Appelle, es reicht nicht.“ Sein Vater Yehuda sagt: „Wir haben heute zwei
Feinde. Die Terroristen von Hamas und Hisbollah und unsere eigene
Regierung.“
## Um 6.29 Uhr gehen die Sirenen
In Jerusalem hatten sich am Montagmorgen Angehörige der noch immer rund 100
in Gaza gefangenen Geiseln vor der Residenz von Netanjahu versammelt. Um
6.29 Uhr spielten sie eine zweiminütige Sirene aus einem Lautsprecher, die
in Israel sonst nur am Holocaust-Gedenktag und am Nationalfeiertag zu hören
ist. „Es war ein Jahr wie ein Albtraum“, sagte Eli Albag, der Vater von
Liri Albag. Die Wehrdienstleistende war von einem Armeestützpunkt entführt
worden. „Am Ende werden wir uns nicht an die Militäroperationen erinnern.
Woran wir uns für immer erinnern werden, sind die Geiseln.“
Für Naama Weinbergs Cousin Itay Svirsky ist es bereits zu spät. Schon seit
Mitte Januar ist bekannt, dass er in Gaza getötet wurde. Trotzdem kommt die
27-Jährige noch immer jede Woche zu den Protesten. Aktiv zu sein, helfe ihr
dabei, nicht verrückt zu werden.
Ihr Architekturstudium hat sie an den Nagel gehängt. „Ich kann mir nicht
vorstellen, meine Energie etwas anderem zu widmen.“ In der Eskalation des
Krieges sieht sie ein „Todesurteil“ für die Geiseln. Stattdessen brauche es
endlich einen Waffenstillstand. Dann könne Israel wieder ein Ort werden, wo
sie ihre Kinder großziehen wolle.
7 Oct 2024
## LINKS
[1] /Ein-Jahr-nach-dem-7-Oktober/!6038224
[2] /Historikerin-ueber-Nahost-Konflikt/!6034924
[3] /Luftangriffe-auf-Libanons-Hauptstadt/!6039379
## AUTOREN
Felix Wellisch
## TAGS
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Israel
Benjamin Netanjahu
Gaza
Hamas
GNS
Kolumne Grauzone
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
## ARTIKEL ZUM THEMA
Ein Jahr 7. Oktober: Ich will unsere Wunden verstehen
Die Gedichte von Chaim Nachman Bialik dokumentieren das Pogrom an Juden in
Kischinjow. Für unsere Kolumnistin sind sie aktueller denn je.
Bundestag debattiert zum 7. Oktober: Kanzlerduell statt Gedenken
Statt zu gedenken, nutzt der Bundestag die Debatte zum 7. Oktober für
Parteipolitik. Kanzler Scholz kündigt dabei Waffenlieferungen an Israel an.
7. Oktober – ein Jahr danach: Es fühlt sich an wie ein Riss
Wie geht das Leben weiter in Deutschland nach dem 7. Oktober? Ein
persönlicher Essay über Jüdischsein, über Solidarität und tiefe Gräben.
Zum 7. Oktober: Verführerische Apokalypse
Die Hamas verherrlicht den Tod nicht nur ihrer Gegner, sondern auch ihrer
eigenen Kämpfer. Damit steht sie konträr zur biblischen Botschaft.
Jahrestag des 7. Oktober 2023: Mahnwachen und lauter Protest
Auf der ganzen Welt gehen Menschen zum Jahrestag des Hamas-Angriffs auf
Israel auf die Straße – in Solidarität mit Israel oder mit Palästina.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.