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# taz.de -- Dokufilm über Fotografen Jürgen Baldiga: Radikale Sichtbarkeit
> Jürgen Baldiga gab einst der Aids-Pandemie ein Gesicht. Der
> Dokumentarfilm „Entsichertes Herz“ nähert sich nun dem Leben des
> Fotografen.
Bild: Jürgen Baldiga in einem Selbstporträt
Möchte man Kunst heute möglichst effektiv promoten, schreibt man im
Zweifel, sie sei „radikal“. Nicht selten wird der Begriff dann auch zur
Umschreibung äußerst prüder oder gewöhnlicher Erzeugnisse herangezogen –
Hauptsache, es wird hingeschaut.
Als tatsächlich radikal erweist sich hingegen das fotografische Werk Jürgen
Baldigas, eines der zentralen Chronisten der Westberliner Schwulenszene.
„Ich interessiere mich für Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen
und ihre Mitte gefunden haben“ – so fasste er sein künstlerisches Credo
einst gewohnt pointiert in seinem Tagebuch zusammen.
Als radikale Sichtbarmachung des Unsichtbaren könnte man diesen Ansatz auch
umschreiben. Und so standen vor allem Menschen im Zentrum seines
Interesses, die im Alltag oft übersehen werden. Damals noch viel mehr als
heute waren das Stricher, Arbeiterinnen, Migrantinnen, Tunten.
Bereits 2019 veröffentlichte der [1][Regisseur Jasco Viefhues mit „Rettet
das Feuer“] einen ersten, längst überfälligen Dokumentarfilm über Baldiga.
Nun, pünktlich zum 31. Todestag Baldigas Anfang Dezember, erscheint mit
[2][„Entsichertes Herz“] ein weiterer Streifen, der sich dem
vielschichtigen Werk des Fotografen nähert. Für Regie und Drehbuch zeichnen
dabei Markus Stein und Ringo Rösener verantwortlich, die bereits 2012 mit
„Unter Männern – Schwul in der DDR“ einen vielbeachteten Dokumentarfilm …
den Start brachten.
## Jung und schwul mit proletarischem Herkunftsmilieu
Der Film nähert sich dem Leben Baldigas auf überwiegend chronologische
Weise. Startschuss ist sein Umzug von Essen nach Westberlin Ende der 1970er
Jahre. In seinem proletarischen Herkunftsmilieu hatte er es als junger
schwuler Mann nicht mehr ausgehalten. Und so strandete er, wie Tausende
andere Sonderlinge jener Zeit, auf der sogenannten „Freiheitsinsel“.
Früh hatte er sich dort in den Kopf gesetzt, Künstler zu werden. Doch die
Realität war zunächst eine andere: Baldiga arbeitete eher widerwillig als
Koch, schmiss dann hin und begann zu malen, singen und schreiben. Nebenher
verdiente er sich seinen Lebensunterhalt als Sexarbeiter. In dieser Zeit
steckte er sich mutmaßlich auch mit dem damals grassierenden HI-Virus an.
Doch statt sich einzuigeln und sich in Leid und Scham zu suhlen, suchte er
die Flucht nach vorne: Und so begann er, sich und andere Infizierte in
schierer Rastlosigkeit und höchster Frequenz abzulichten.
Die damals entstandenen Fotos zeugen von überbordender Lust, Trauer, aber
auch von Exzentrik, Übermut und – ganz zuvorderst – einem selten erreichten
Witz. In „Entsichertes Herz“ bilden sie die zentrale visuelle Grundlage,
mithilfe derer sich Stein und Rösener dem Wirken Baldigas nähern.
Gerahmt werden diese von Tagebuchaufzeichnungen Baldigas, die den im Alltag
oftmals forschen und direkten Fotografen von einer sensibleren,
nachdenklicheren Seite zeigen. Darüber hinaus kommen in dem Film etliche
Wegbegleiter wie seine Schwester Birgit oder sein Freund Ulf Reimer zu
Wort, den er kurz vor seinem Tod kennen und lieben lernte.
So entsteht ein collagenhaftes, über weite Strecken rauschhaftes Bild, das
einerseits die Geschichte eines einzelnen Menschen erzählt, zugleich aber
auch weit darüber hinaus blickt: Denn im Schicksal Baldigas spiegelt sich
zugleich auch die [3][Geschichte einer ganzen Generation junger queerer
Männer, die aus den provinziellen Nestern der Republik in die urbanen
Zentren flüchteten], um endlich leben zu können, und dort ihren Tod fanden.
Die Konfrontation mit diesem Leid, das sich in Baldigas Werk und damit auch
in „Entsichertes Herz“ widerspiegelt, schmerzt. Aber wegschauen ist keine
Option – damals wie heute.
Wer dem Geschehen in „Entsichertes Herz“ aufmerksam folgt, wird zudem mit
mehr als nur Trauer zurückbleiben: Denn es zeugt vor allem von der schier
unstillbaren Lebenslust Baldigas. Dass der Film diese einzufangen vermag,
ist sein großes Verdienst.
3 Dec 2024
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## AUTOREN
Luca Glenzer
## TAGS
Film
Genrefilm
Dokumentarfilm
Fotografie
Schwerpunkt HIV und Aids
Schwule
Film
Lesestück Interview
Schwul
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