| # taz.de -- Wahlkampf als Kleinstpartei: „Ich bin hier der Kleinste“ | |
| > Wahlkampf im Winter? Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte | |
| > Kleidung, findet Stefan Seidler, einziger Abgeordneter seiner Partei im | |
| > Bundestag. | |
| Bild: Klein, aber nicht allein: Stefan Seidler, Abgeordneter des Südschleswigs… | |
| taz: Herr Seidler, bei [1][unserem letzten Interview im Dezember 2022] | |
| haben Sie gesagt, die Ampel würde bis zum Ende durchhalten. Jetzt ist es | |
| doch anders gekommen. Hat Sie das überrascht? | |
| Stefan Seidler: Überhaupt nicht. Ehrlich gesagt war ich auch erleichtert, | |
| wegen der schlechten Stimmung im Parlament. Aber ich bin auch verärgert, | |
| weil wir noch einige Dinge hätten anschieben sollen. | |
| taz: Als da wären? | |
| Seidler: Wir brauchen einen Haushalt. Da draußen gibt es ganz viele | |
| Projekte, die jetzt ihr Jahr planen, um dann beim nächsten Haushalt zu | |
| erfahren: Nein, ihr kriegt doch nichts. Und die Leute haben Ebbe im | |
| Portemonnaie. Energie- und Mietpreise, Versicherungen – die Kosten steigen. | |
| Eigentlich sollte ja noch einiges auf den Weg gebracht werden. | |
| Rentenreform, Kindergeld und so weiter. Das wäre gut gewesen, gerade vor | |
| Weihnachten. | |
| taz: Also herrscht auch politisch Ebbe bis zu den Neuwahlen? | |
| Seidler: Höchstwahrscheinlich kommt noch die Reform des Gesetzes über das | |
| Bundesverfassungsgericht, da bin ich ja auch einer der Initiatoren. Genauso | |
| [2][wie beim AfD-Verbotsantrag]. Da müssen wir jetzt ganz schnell laufen, | |
| um das noch über die Bühne zu bekommen. | |
| taz: Lassen Sie uns Bilanz ziehen. Was haben Sie im Bundestag erreicht, was | |
| können Sie sich ans Revers heften? | |
| Seidler: Ich habe an zwei Seiten ein Revers. Auf der einen Seite wurde bei | |
| den Kolleg*innen das Bewusstsein dafür geschärft, dass es überhaupt | |
| Minderheiten gibt, und weshalb es auch für unsere Demokratie wichtig ist, | |
| sie korrekt zu behandeln. Das andere sind konkrete Ergebnisse, wie feste | |
| Zuschüsse statt immer nur Mittel für einzelne Projekte. | |
| taz: Können Sie ein Beispiel nennen? | |
| Seidler: Ständige Zuwendungen für die friesische Minderheit und eine | |
| Aufstockung für das Minderheitensekretariat hier in Berlin, die | |
| Dachorganisation aller Minderheiten. Außerdem haben wir das Namensrecht | |
| reformiert. Jetzt könnte ich den Mittelnamen meiner Mutter annehmen, Møller | |
| mit dänischem Ö. Bislang war es bei uns nicht möglich, skandinavische | |
| Buchstaben mit im Namen zu führen. Aber einiges haben wir auch nicht | |
| durchbekommen. Ich kämpfe nach wie vor dafür, dass wir in der neuen | |
| Geschäftsordnung des Bundestags für Vertreter*innen von Minderheiten | |
| mehr Rechte bekommen, ähnlich wie im schleswig-holsteinischen Landtag. Das | |
| wäre die Möglichkeit, an mehreren Ausschüssen teilzunehmen, aber auch, | |
| Fragen auf die Tagesordnung zu setzen oder Entschließungsanträge | |
| einzubringen. | |
| taz: Küstenschutz ist ja auch in Schleswig-Holstein ein großes Thema. Wie | |
| ist es da gelaufen? | |
| Seidler: Es war geplant, bei den Mitteln für den Küstenschutz massiv zu | |
| streichen. Diese Einsparungen wurden dank unseres Einsatzes vom Tisch | |
| genommen. Aber was wir jetzt haben, reicht nicht aus für das, was wir | |
| brauchen. Trotzdem muss ich ganz ehrlich sagen: Wenn Cem Özdemir, der alte | |
| Baden-Württemberger, nach Nordfriesland kommt und sich in Gummistiefeln mit | |
| mir den Deich anguckt, dann ist das ja ein Stück weit auch ein Zeichen, | |
| dass er zugehört hat. | |
| taz: Robert Habeck, derzeit noch Bundeswirtschaftsminister, kommt aus | |
| demselben Wahlkreis wie Sie. Wie war die Zusammenarbeit? | |
| Seidler: Wir schätzen uns. Ich habe jedoch von Anfang an gesagt, dass er | |
| keine Zeit mehr für den Wahlkreis haben wird, wenn er Superminister ist. | |
| Und das war auch so. Manchmal hätte ich mir etwas mehr Vizekanzler bei uns | |
| im Norden gewünscht. Oder, um mit Olaf Scholz zu sprechen: ein bisschen | |
| mehr Wumms. | |
| taz: Nun steht der Wahlkampf an. Was sind Ihre Themen? | |
| Seidler: Natürlich das Nordische, die Verbundenheit zu Minderheiten. Wir | |
| fordern, in Deutschland die Energiemärkte aufzuteilen, so wie in | |
| Skandinavien auch. Es kann ja nicht sein, dass wir im Norden weiterhin die | |
| höchsten Preise bezahlen. Und wir werden uns gegen die Schuldenbremse | |
| aussprechen, weil bei uns alles auseinanderfällt, zum Beispiel die | |
| Infrastruktur. Das können wir doch nicht so den nachfolgenden Generationen | |
| hinterlassen, schließlich tragen wir Verantwortung für sie. | |
| taz: Der Wahlkampf kommt etwas überstürzt. Wie sieht das praktisch aus? Ihr | |
| Landeschef hat gesagt, der SSW habe einen Plan B … | |
| Seidler: Wir sind inzwischen bei Plan D angekommen. Traditionell verteilen | |
| wir im Wahlkampf immer unsere Partei-Blume, die Osterglocke. Das werden | |
| jetzt wohl irgendwelche Schokoladenweihnachtsmänner. Es wird | |
| Straßenwahlkampf geben, wir werden massiv auf Social Media setzen und | |
| vielleicht auch hier und da noch mal Klinken putzen gehen. | |
| taz: Haben Sie genug potenzielle Mitstreiter*innen? | |
| Seidler: Klar müssen wir unsere Wahlkämpfer*innen einschwören, aber ich | |
| merke den Rückhalt aus der Partei. Viele haben uns und mir geschrieben: Wir | |
| unterstützen dich. Die Nominierungen in unseren Kreisverbänden waren schon | |
| so angesetzt, dass das passt. Wir haben unseren Parteitag, bei dem wir die | |
| Liste und den Spitzenkandidaten wählen, vorverlegen müssen. Das ist gar | |
| nicht so einfach, weil vielerorts schon alles für Weihnachtsfeiern | |
| ausgebucht ist. | |
| taz: So wirklich Spaß macht ein Wahlkampf im nasskalten Winter ja nicht … | |
| Seidler: Auch wenn das eine kalte Angelegenheit ist, da kenne ich nichts. | |
| Wir hier sagen: Es gibt kein schlechtes Wetter, sondern nur schlechte | |
| Kleidung. Ich finde Wahlkampf toll. Nur am 24. Dezember nicht, da mache ich | |
| hygge (Dänisch für gemütlich, Anm. d. Red.). | |
| taz: Was erwarten Sie generell vom Wahlkampf? | |
| Seidler: Der wird richtig schmutzig. Wir haben schon einen ersten | |
| Vorgeschmack erlebt, als Markus Söder neulich über die Grünen und den | |
| schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Daniel Günther hergezogen hat. | |
| Was soll das? Wir haben am rechten Rand und am äußersten linken Rand mit | |
| Leuten zu tun, die sich einer Sprache bedienen und ein Gegeifer da von sich | |
| geben, wo ich mich frage, wieso müssen jetzt auch wir Demokraten in der | |
| politischen Mitte die gleichen Methoden und denselben Ton anwenden. | |
| Zugegeben, die Regierung war ein Griff in die Tonne. Aber von allen Seiten | |
| alles so schlecht zu machen und in den Dreck zu ziehen, das dient | |
| niemandem. Außer denen am äußersten Rand, weil das den Frust in der | |
| Bevölkerung noch mal weiter schürt. | |
| taz: Allen Prognosen zufolge wird die AfD ein gutes Ergebnis einfahren und | |
| auch das BSW dürfte in den Bundestag einziehen. Kann man Wähler*innen | |
| dieser Parteien zurückholen? | |
| Seidler: Ich mache das mal ein bisschen fest an dem, was wir bei uns | |
| machen. Wir sind eine regional verankerte Minderheitenpartei und setzen | |
| auch darauf, in der Region präsent zu sein. Das ist einfacher, weil wir als | |
| dänische Minderheit unsere Organisation haben. Unser Erfolgskonzept ist | |
| Bürgernähe. Das würde ich den Großen auch wieder mehr ans Herz legen. Sich | |
| nicht zu fein dafür zu sein, auch mal mit ganz normalen Menschen einen | |
| Abend bei sich im Dorf zu verbringen. Nach dem, was ich höre, haben die | |
| sich die großen Parteien im Osten Deutschlands davon ein Stück weit | |
| verabschiedet. | |
| taz: Der Grüne Robert Habeck versucht es jetzt immerhin mit [3][Gesprächen | |
| am Küchentisch] … Kann das etwas bringen? | |
| Seidler: Schwer zu sagen. Was ich an Robert nach wie vor schätze, ist, dass | |
| er irgendwann den Mut zusammengenommen und gesagt hat: Wenn wir das Land | |
| hier verändern wollen, dann müssen wir auch mal etwas mit den Schwarzen | |
| zusammen machen. Und das haben wir in Schleswig-Holstein ja ganz gut | |
| hinbekommen. Das ist übrigens auch ein Stück weit das Mantra meiner Partei: | |
| Dass man auch mal über die politischen Gräben hinweg zusammenarbeitet, um | |
| etwas voranzubringen, so wie wir das in Skandinavien gewohnt sind. | |
| taz: Olaf Scholz hat für den Bund eine Minderheitsregierung ausgeschlossen. | |
| Halten Sie das für richtig? | |
| Seidler: Es wäre mal ganz gesund für unser Land, eine andere Medizin zu | |
| probieren. Wir haben es jetzt mit der Ampel versucht, das hat nicht | |
| funktioniert. Aber dann gleich wieder auf die altbewährten Strategien | |
| zurückzugreifen, ist auch nicht der richtige Weg. Minderheitsregierungen | |
| gibt es in Skandinavien seit eh und je, insbesondere in Dänemark. Das | |
| erfordert Kompromisse, aber eine Demokratie lebt eigentlich ausschließlich | |
| von Kompromissen. | |
| taz: Was war Ihr krassestes Erlebnis in diesen dreieinhalb Jahren im | |
| Bundestag? | |
| Seidler: Was Leute sich erlauben, zu sagen – insbesondere diejenigen vom | |
| äußersten rechten Rand. Ein Beispiel von vielen war der | |
| Entschließungsantrag zu den Rechten der Sinti und Roma. Da stellt sich so | |
| ein Heini im Bundestag hin und schmettert fünfmal das Z-Wort. Er nenne sein | |
| Schnitzel weiter so, wie er wolle. Das ist heftig. Dabei meine ich nicht | |
| nur Abgeordnete, sondern auch deren Mitarbeiter, Neonazis, die wir hier | |
| über den Bundestag finanzieren. Hier gendere ich bewusst nicht, denn das | |
| sind alles Männer. | |
| taz: Was steht positiv auf der Habenseite? | |
| Seidler: Es gibt hier ganz viele tolle Kolleg*innen aus allen | |
| demokratischen Fraktionen, mit denen ich super zusammenarbeite. Da macht es | |
| Spaß, Politik zu machen. Ich bin ja hier der Kleinste und habe keine große | |
| Fraktion hinter mir. Ich sitze auch nicht im Haushaltsausschuss. Aber | |
| trotzdem nehmen die mich mit. Das ist dann so eine Art Gütesiegel, nach dem | |
| Motto: Wir sorgen auch für unsere Minderheiten. Und wenn das dafür | |
| ausreicht, dass ich meine Dinge durchkriege, bin ich zufrieden. | |
| taz: Sie wollen bei den Bundestagswahlen im Februar wieder antreten. Warum? | |
| Seidler: Ich bin hier noch nicht fertig. Das waren ja erst kleine Schritte, | |
| um [4][Minderheitenrechte] und unsere Region voranzubringen. Wenn man sich | |
| die Umfragen anschaut, habe ich Schiss, dass wir in der nächsten | |
| Bundesregierung wieder einen Verkehrsminister von der CSU bekommen. Und | |
| deshalb muss ich hier sein, damit wir auch weiterhin für Schleswig-Holstein | |
| ein paar Sachen herausholen können und nicht nur alles in den Süden geht. | |
| 1 Dec 2024 | |
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| Barbara Oertel | |
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