# taz.de -- Erstes Linkin-Park-Album nach 7 Jahren: Neuer Anfang vom Ende | |
> Mit „From Zero“ belebt die Band Linkin Park sieben Jahre nach dem Suizid | |
> ihres Sängers den eigenen Sound wieder – mit Erfolg. Erleben wir eine | |
> popkulturelle Renaissance? | |
Bild: Mike Shinoda (l.) und Emily Armstrong mit Linkin Park beim Konzert in Ham… | |
Nicht immer ist in der Welt der Popmusik leicht zu verorten, wann etwas | |
angefangen hat. War Elvis Presley wirklich der Erfinder des Rock ’n’ Roll, | |
oder verwandelte er nur afroamerikanischen Rhythm and Blues in eine „weiße“ | |
Variante? War 1977 wirklich eine Geburtsstunde des Punk, oder nur | |
Kulmination dessen, was zuvor als sogenannter Garage Rock brodelte? | |
Enden findet man in der Popmusik hingegen recht leicht, oder besser: | |
Anfänge von Enden. Mit dem Suizid von Kurt Cobain 1994 war Grunge | |
vielleicht noch nicht vorbei, aber ein Niedergang wurde eingeläutet. Ein | |
paar Jahre später existierte das Genre leicht modernisiert, aber eher | |
randständig als Post-Grunge. So innovativ und relevant wie zu [1][Nirvanas] | |
Zeiten wurde der Stil nie wieder. | |
Als Chester Bennington, Sänger der Band Linkin Park, sich 2017 das Leben | |
nahm, hatte das eine tragische Parallele: Auch er verehrte Kurt Cobain, | |
hatte einst eine Post-Grunge-Band namens Grey Daze. Auch er kam aus | |
schwierigem Elternhaus, hatte seine Jugend mit exzessivem Drogenkonsum | |
verbracht, kämpfte mit Süchten. Auch sein Tod läutete das Ende eines Genres | |
ein. | |
## Zwischen Verletzlichkeit und Zorn | |
Ähnlich wie Cobains konnte Benningtons Stimme enorm wütend, aber auch | |
zerbrechlich sein. Es war dieses Element, das Linkin Park Anfang der | |
Nullerjahre erheblich von anderen Bands unterschied, die sich zur selben | |
Zeit an einer Mischung aus Rap- und Rockmusik – genannt [2][„Nu Metal“] �… | |
versuchten. Linkin Park fehlte das testosterongeladene Getue von Limp | |
Bizkit, die entrückte Brutalität von Slipknot, Korn oder Disturbed, | |
stattdessen konnten sich insbesondere viele Teenager mit Benningtons | |
Verletzlichkeit und seinen zornigen, kathartischen Entladungen | |
identifizieren. | |
Während manche Plattenbosse aufgrund einer gerade populär werdenden | |
Technologie namens Internet und dem damit einhergehenden Filesharing das | |
Ende der Musikindustrie prophezeiten, nutzten Linkin Park die neuen | |
Möglichkeiten, um sich bekannt zu machen. Insbesondere durch ihre beiden | |
ersten Alben „Hybrid Theory“ (2000) und „Meteora“ (2003) wurden sie zu | |
einer der kommerziell erfolgreichsten Bands des beginnenden 21. | |
Jahrhunderts. | |
Dass sie es bleiben würden, danach sah es nach Benningtons Tod nicht aus. | |
Mit Nu Metal hatte schon der späte Linkin-Park-Sound immer weniger zu tun, | |
Newcomer in diesem Bereich gab es so gut wie keine mehr. Sieben Jahre lang | |
veröffentlichte die Band nichts, wies Gerüchte über Nachbesetzungen stets | |
zurück. | |
## Aufruhr um Armstrongs Scientology Vergangenheit | |
Dann verkündete die Gruppe im September dieses Jahres überraschend ihr | |
Comeback. Bei einer Veranstaltung stellten die Mitglieder Emily Armstrong, | |
die zuvor in der mittelmäßig bekannten Band Dead Sara spielte, als neue | |
Sängerin vor. Ihren Einstand gab diese live mit einem neuen Song, „The | |
Emptiness Machine“. Etwa ein Jahr war dieser Schritt vorbereitet und streng | |
geheim gehalten worden. | |
Vergangene Woche erschien dann „From Zero“, das erste Linkin-Park-Album mit | |
Armstrong am Mikrofon, die sich als nahezu perfekte Besetzung herausstellt. | |
Weder transportiert sie, eine bemühte Kopie ihres berühmt verstorbenen | |
Vorgängers sein zu wollen – was die Fans nie verziehen hätten –, noch lä… | |
ihre Stimme wichtige Charakteristika vermissen. Glasklare Balladen („Over | |
Each Other“) liegen ihr ebenso wie eine kehlige Zerrstimme, mit der Linkin | |
Park nun vielleicht einen ihrer härtesten Metal-Songs jemals produziert | |
haben („Casualty“). | |
Ein kurzer [3][medialer Aufruhr über Armstrongs Scientology-Mitgliedschaft] | |
und ihre frühere Unterstützung eines verurteilten Sexualstraftäters und | |
Sektenkollegen ging vorüber. | |
Stattdessen befindet sich die Band auf einem Erfolgskurs wie zuletzt vor 20 | |
Jahren – und übertrifft sogar alte Rekorde. „The Emptiness Machine“ | |
erreicht als erster Linkin-Park-Song Platz 1 der deutschen Single-Charts. | |
Angekündigt ist eine Welttournee mit 59 Terminen. Wie groß der Anteil des | |
nostalgischen Effekts an diesem Erfolg ist, beweist, dass auch | |
jahrzehntealte Linkin-Park-Songs wie Numb dank Streaming wieder in die Top | |
100 rutschen. | |
## Neue Rekorde gebrochen | |
Wenngleich „From Zero“ ein gut gearbeitetes Album ist, klingt es über weite | |
Strecken hinweg wie etwas, das der [4][Kulturtheoretiker Mark Fisher] einst | |
als „geisterhaft“ beschrieb: ein Stil, der längst nicht mehr lebendig ist, | |
kulturindustriell erneuert („Retro“). Der Song „Heavy is the Crown“ etwa | |
hat die langen Oktavakkorde, die kurzen Rap-Parts Mike Shinodas, den | |
ausufernden Chorus und die abrupt-kräftige Bridge. Es ist ein | |
eigenständiger Song, legt man ihn aber etwa neben „Faint“ aus dem Jahr | |
2003, sind strukturelle Ähnlichkeiten mehr als auffällig. „From Zero“ fä… | |
oft wörtlich „von vorn“ an. | |
Damit reiht sich „From Zero“ ein in eine ganze Handvoll jüngerer Alben, die | |
wohl bewusst wie Erinnerungen an sich selbst klingen sollen: Die Pop-Punker | |
blink-182 veröffentlichten 2023 das Album „One More Time …“ (!), auf dem | |
sie sich durch ihre eigenen Jahrzehnte Bandgeschichte spielen. Limp Bizkit, | |
Green Day, Sum 41, Avril Lavigne, Fall Out Boy – reihenweise | |
Künstler*innen aus der Jugendzeit der Millennial-Generation touren | |
wieder und schrieben in den vergangenen Jahren, oft nach längerer Pause, | |
mit Erfolg Musik, die „wie früher“ klingt. | |
Parallel dazu hat die nachfolgende Alterskohorte, „Generation Z“, mit | |
[5][Billie Eilish] oder [6][Olivia Rodrigo] auch in ästhetischer Hinsicht | |
den „Y2K-Stil“ für sich wiederentdeckt. Die tief sitzenden, weiten Jeans, | |
die Neonfarben, Plateauschuhe und Gothic-Symboliken sind nicht dieselben, | |
aber die gleichen. | |
## Nostalgische Gefühle | |
Für Fisher waren solche wiederkehrenden Trends Ausdruck einer | |
systematischen Fantasielosigkeit westlicher Popkultur, die mit der | |
Unfähigkeit korrespondiert, eine Alternative zum Kapitalismus zu denken. | |
Neu am Nullerjahre-Comeback ist aber, dass der hier revitalisierte Sound | |
keineswegs so alt ist, dass die anvisierte Zielgruppe sich nicht daran | |
erinnern könnte. Dass die Bands und Labels darauf abzielen, mit den | |
nostalgischen Gefühlen der sich nun im besten | |
Arbeitnehmer*innenalter befindlichen Millennials abzukassieren, wird | |
kaum verborgen. Interessant ist, dass diese es dankbar annehmen. | |
Warum ausgerechnet diese Generation sich nach ihrer unmittelbaren | |
Vergangenheit sehnt wie Greise nach ihrer Kindheit, und für die Simulation | |
gutes Geld bezahlt, lässt sich vermuten. Eine zügiger werdende | |
weltpolitische Krisendynamik könnte daran schuld sein. Popkulturell bleibt | |
eine Renaissance – lauter neue Anfänge vom immer gleichen Ende. | |
19 Nov 2024 | |
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## AUTOREN | |
Konstantin Nowotny | |
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