# taz.de -- Heiliger Bimbam: Als ich Frank Castorf ein Fahrrad geklaut habe | |
> Zwei Spaziergänge, ein skurriler Traum und ein Theater-Skandal haben das | |
> Wochenende unserer Autorin geprägt. Schön war es meistens trotzdem. | |
Bild: „Method“ an der Volksbühne: Marvin (Martin Wuttke) und Maya (Johanna… | |
Mein Feierabend beginnt damit, dass ich ein Bier ausschlage und loslaufe. | |
Ich komme keine 500 Meter weit, da treffe ich auf eine Kollegin. Wir kennen | |
uns vor allem von den taz-Partys, wo wir öfter zu den Letzten auf der | |
Tanzfläche gezählt haben. Wir mögen aber auch beide lange und | |
[1][ausgiebige Spaziergänge], stellen wir nun fest. Mein heutiger | |
Spaziergang führt mich durch Mitte, was eigentlich nie eine gute Idee ist. | |
Ich werde jetzt auf keinen Fall shoppen, denke ich noch, da finde ich mich | |
auch schon im frisch eröffneten Geschäft einer viel zu gehypten | |
französischen Modemarke wieder. Zum Glück fühlt sich der Pullover mit der | |
hübschen Blumenstickerei extrem synthetisch an, dann kann ich ja beruhigt | |
Bibimbap essen gehen. | |
Am Samstagmorgen lese ich von einer neuen Eskalationsstufe im | |
Nahostkonflikt – Verdrängungsmove zu Instagram. Ach, so brennt man also | |
einen Wok ein! Und wusste ich schon, dass Glutamat eine Erfindung der | |
Deutschen ist? Als ich das Haus verlasse, fällt ein winziges gelbes Blatt | |
in meine Tasche. „Hallo, kleine Frau“, sagt ein Kind, ich muss lachen. | |
Vor der nigelnagelneuen Crêperie, die die neueste Gentrifizierungswelle | |
symbolisiert, überhole ich zwei Pokémonjäger. Mein Spotify-Algorithmus | |
wählt Zaho de Sagazan und ich muss sagen, ich höre sie schon ganz gerne, | |
obwohl mir die Armada aus Feuilleton-Boys, die gerade an ihren Lippen | |
hängt, schon etwas suspekt ist, aber dafür kann ja die Sängerin nix. | |
## Aussteigerleben ist wohl kein Honigschlecken | |
Eine Straße weiter kommt mir eine dieser typischen jungen Familien | |
entgegen, die mit ihren Käppis, Parkas und Labradors immer so aussehen wie | |
irgendwelche Promis von vor 20 Jahren. Getarnt, um von Paparazzi nicht | |
erkannt zu werden. | |
Vor Edeka verkauft ein Mann aus einfachen Plastikboxen Eier und Äpfel. Mit | |
einem rostigen Messer schneidet er mir einen Schnitz ab. „Berner | |
Rosenapfel“ heiße die Sorte. Sie schmeckt nicht so süß wie eine Sorte aus | |
dem Supermarkt. Der Mann erzählt mir, dass seine Äpfel von einem | |
verlassenen Grundstück kommen. Er ernte sie immer dann, wenn die Jägerin | |
gerade nicht auf ihrem Hochsitz hocke. Trotz seiner Redseligkeit wirkt er | |
etwas deprimiert auf mich. „Man muss halt kreativ bleiben“, sagt er. So ein | |
Aussteigerleben ist wohl auch kein Honigschlecken. | |
Ein Vater räumt vor den Augen seiner Kinder eine Schlafpappe aus dem | |
Hauseingang. Er brüllt: „Das ist zum Kotzen!“ Ja, aber sicher nicht die | |
Pappe, denke ich. | |
Die Freundin, mit der ich mich zum Frühstück verabredet habe, hat mir ein | |
Lavendelöl mitgebracht. Ich reibe mir ein klein wenig davon auf die | |
Handfläche. Es riecht gut. Wir reden über die Kompliziertheiten der Liebe, | |
auch dann noch, als wir längst im Volkspark Friedrichshain sitzen und uns | |
die Herbstsonne aufs Gesicht scheinen lassen. | |
## WTF Mittelalter | |
Abends gehe ich in die Volksbühne. Theater heute hat mich beauftragt, eine | |
Kritik über [2][„Method“] von Kata Wéber und Kornél Mundruczó zu schrei… | |
Das Stück ist in der Presse nicht allzu gut weggekommen. Auch ich quäle | |
mich durch. Dabei ist das Thema nicht uninteressant: Method Acting und die | |
Grenzen von Kunst. Doch der beste Moment ist trotzdem der, als Benny | |
Claessens in der kannibalischen Rotkäppchenszene seinen Picknickkorb | |
vergessen hat und ruft: „Sorry Leute, jetzt dauert es noch länger …“ | |
Vielleicht liegt es an etwas zu viel Wein, aber in der Nacht träume ich, | |
dass ich Frank Castorf ein Fahrrad klaue. Es hat aber leider winzige Räder, | |
also macht das Fahren damit keinen Spaß. | |
Ich wache gerädert auf und scrolle durch veganes Essen. Dann gucke ich fast | |
die ganze Demo vor der Staatsoper Stuttgart. Florentina Holzinger hat dort | |
mit ihrer kirchenkritischen Inszenierung „Sancta“ einen mittelschweren | |
[3][Skandal ausgelöst]. Und nun haben sich vor der Oper bleichgesichtige | |
Christen versammelt, die singen und beten. Ein Dudelsackspieler trötet | |
„Nehmt Abschied, Brüder“, ein älterer Mann spricht von Blasphemie. WTF, | |
Mittelalter, denke ich, und beiße in ein Stück Zitronenkuchen. | |
29 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Anna Fastabend | |
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