# taz.de -- Dokumentarfilm „Gretas Geburt“: Hebamme in Haft | |
> In „Gretas Geburt“ beschäftigt sich Filmemacherin Katja Baumgarten mit | |
> einem Kindstod und der Hebamme, die dafür wegen Totschlags verurteilt | |
> wurde. | |
Bild: Interview auf einem Dortmunder Gerichtsflur: Szene aus dem Film „Gretas… | |
Ein Kind stirbt direkt nach seiner Geburt. Das ist eine Tragödie – vor | |
allem für die Eltern. Aber auch für jene, die dabei geholfen haben, es zur | |
Welt zu bringen. Alle wollen den Grund für diesen Todesfall wissen, aber es | |
gibt keine medizinische Erklärung dafür. So rufen die trauernden Eltern | |
eine andere Instanz an: die Justiz. Und dadurch wird die Frage anders | |
gestellt: Jetzt wird nicht mehr ausschließlich untersucht, was überhaupt | |
passiert ist, sondern ob sich dabei jemand schuldig gemacht hat. | |
Der Prozess um das Mädchen Greta hat Justizgeschichte geschrieben: Zum | |
ersten Mal wurde in Deutschland eine Geburtshelferin wegen Totschlags | |
verurteilt. Ein Schlag war das auch für alle [1][unabhängig arbeitenden | |
Hebammen], denn mitverhandelt wurde im Gerichtsaal auch über Hausgeburten. | |
Hebamme ist auch Katja Baumgarten. Die Hannoveranerin ist aber vor allem | |
Filmemacherin – und sie hat selbst ein Kind verloren. Darüber hat sie im | |
Jahr 2002 einen Film gedreht, „Mein kleines Kind“ betitelt. Sie kann sich | |
also vermutlich so gut wie nur wenige andere einfühlen: in die Eltern, aber | |
auch in die beschuldigte und verurteilte Geburtshelferin. Dazu kommt ihr | |
Fachwissen, das helfen dürfte, diesen extrem vielschichtigen Fall kompetent | |
darzustellen. | |
Vor allem ist sie aber eine gute Dokumentarfilmmacherin, die in „Gretas | |
Geburt“ nun den richtigen Ton und die passenden stilistischen Mittel | |
gefunden hat, um dieses Drama mit seinen ethischen, politischen, | |
psychologischen und philosophischen Ebenen eindringlich miterleben zu | |
lassen – auch denen im Publikum, denen das Thema bisher völlig fremd ist. | |
## 59 Prozesstage | |
Baumgarten nennt ihren Film eine „dokumentarische Erzählung aus zehn | |
Jahren“: Sie hat den Prozess sowie die angeklagte Hebamme Anna, zudem | |
selbst Ärztin, über lange Zeit begleitet – ohne zu ahnen, dass diese Arbeit | |
so lange dauern würde. | |
Auch dass ein Film daraus werden würde, wusste sie lange nicht: Zunächst | |
hatte sie als Journalistin für eine Fachzeitschrift für [2][Hebammen] über | |
den Prozess geschrieben. Der forderte dann mit 59 Gerichtstagen in zwei | |
Jahren viel mehr von ihrer Zeit und ihrem Engagement ein, als sie erwartet | |
hatte. Nach langen Gesprächen mit Anna wurde Baumgarten schließlich klar, | |
dass ein Film das passende Medium sei, um diese Geschichte zu erzählen. | |
Dabei gelingt es ihr, die vielen Aspekte des Dramas zugleich einfühlsam und | |
sachlich darzustellen. Gretas Eltern haben jede Beteiligung an dem Film | |
verweigert, nun erzählt er nicht nur davon, wie sie im Prozess auftraten, | |
sondern zitiert wird auch aus dem Brief, mit dem sie ihre Ablehnung | |
begründen – so wird „Gretas Geburt“ auch den Eltern und ihrer Situation | |
gerecht, so gut das eben geht. | |
Eindeutig die Protagonistin ist aber die Geburtshelferin Anna. Der Film | |
besteht zu einem großen Teil aus Gesprächen mit ihr, was natürlich ihre | |
Perspektive ins Zentrum rückt. Aber fachlich kompetent analysiert Katja | |
Baumgarten auch Gutachten, die dem Gericht vorgelegt wurden, sowie die | |
Ausführungen von Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Richterschaft. | |
Was auffällt: Nicht eine der Zeug*innen und Gutachter*innen, die sich für | |
die Hausgeburt aussprachen, nahm der Vorsitzende Richter ernst. Dafür | |
erfuhr ein Gutachter, der den Fall einseitig von der Warte der Schulmedizin | |
bewertet, vom Gericht viel Wohlwollen. Entsprechend hart fiel das Urteil | |
aus: Anna wurde wegen Totschlags zu einer Gefängnisstrafe von sechs Jahren | |
und neun Monaten verurteilt. | |
Und damit beginnt der zweite Teil des Films: Darin erzählt Baumgarten auch, | |
wie so eine Strafe einen Menschen verändert. Annas Existenz ist durch hohe | |
Gerichtskosten, Schadenersatzforderungen und ein lebenslanges | |
[3][Berufsverbot] faktisch vernichtet. Das Leben im Gefängnis ist noch mal | |
härter für sie, weil sie sich deshalb nicht um ihren behinderten Sohn und | |
ihre 91-jährige, pflegebedürftige Mutter kümmern kann. | |
Immer wieder hat Baumgarten sie mit der Kamera besucht, im Gefängnis und | |
bei einem Hafturlaub. Im Jahr 2021 wird Anna vorzeitig aus der Haft | |
entlassen. Danach spricht sie verbittert davon, dass sie sich „dem | |
Rechtssystem nicht mehr zugehörig fühlt“. Baumgarten dokumentiert auch | |
diese durchaus irritierenden Aussagen. Sie zeigen eben auch, wie | |
grundlegend die früher immer fortschrittlich, selbstbewusst und souverän | |
wirkende Anna sich durch die Strafe verändert hat. | |
Als Filmemacherin musste Katja Baumgarten das Problem lösen, dass sie neben | |
den Aufnahmen von ihren Gesprächen mit Anna kaum Bilder hatte: Im | |
Gerichtssaal [4][galt ein striktes Kameraverbot]. | |
## Plötzlich Gerichtszeichner | |
Der Ausweg: Ihr Sohn Nikolaus wurde temporär zum Gerichtszeichner. Diese | |
aus der Not geborene Entscheidung erwies sich sogar als Glücksfall, denn | |
die Zeichnungen des Künstlers und Designers erscheinen subjektiver und | |
dadurch erzählerisch stärker als die Arbeiten professioneller | |
Gerichtszeichner*innen, wie man sie vielleicht aus der Presse kennt. | |
Bilder brauchte Baumgarten aber auch Bilder für die Sequenzen, in denen sie | |
über sich selbst und ihre Beziehung zu der Geschichte redet. Denn sie | |
merkte schon bald, dass sie als Erzählerin durch den Film würde führen | |
müssen, aus Gründen der emotionalen Erdung sowie der nötigen Klarheit. | |
Im Kommentar erzählt sie, dass sie oft auf dem Land an „Gretas Geburt“ | |
gearbeitet habe, an einem See. Da bot es sich wohl an, ruhige und | |
menschenleere Aufnahmen von dieser niedersächsischen Landschaft zu | |
unterschiedlichen Tages- und Jahreszeiten zu integrieren. Sie dienen nun | |
als vielleicht willkommene visuelle Ruhepunkte in einem Film, der seinem | |
Publikum ansonsten hohe Konzentration abverlangt. | |
26 Oct 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Hebammenausbilder-ueber-Kostendebatte/!5089293 | |
[2] /Hebammen/!t5015004 | |
[3] /Berufsverbot/!t5034618 | |
[4] https://amtsgericht-hannover.niedersachsen.de/startseite/service/besondere_… | |
## AUTOREN | |
Wilfried Hippen | |
## TAGS | |
Dokumentarfilm | |
Hebammen | |
Geburtshilfe | |
Justiz | |
Hannover | |
Social-Auswahl | |
Filmfestival | |
Schwerpunkt Stadtland | |
Hebammen | |
Geburt | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
48. Filmwoche Duisburg: Fragen von hinter der Kamera | |
Die 48. Duisburger Filmwoche würdigte die Kraft des beobachtenden | |
Dokumentarfilms und der Neugier auf die Welt. | |
Mann über Berufswunsch Geburtshelfer: „Hebamme ist Hebamme“ | |
Hebamme ist ein klassischer Frauenberuf: Rund 27.000 gibt es in | |
Deutschland, nur ein paar sind männlich. Wie Casper Jaginiak. Er will | |
Hebamme werden. | |
Hebammen Versorgung Deutschland: Prekäre Geburt | |
Jede Frau hat Anspruch auf eine Hebamme. Doch vielen Müttern fehlt eine | |
Betreuung. Woran liegt das? Unterwegs mit einer Geburtsthelferin. | |
Autorin über Gewalt bei Geburten: „Kinder kriegen und Klappe halten“ | |
Verbale Übergriffe und körperliche Gewalt: Gebärende machen belastende | |
Erfahrungen im Kreißsaal, sagt Lena Högemann. Warum das so ist und was sich | |
ändern müsste. |