# taz.de -- Pessimistische Sätze: Radikal einen Mittelweg suchen | |
> Radikal daherreden kann jeder, zynisch sein kann Söder, heulen und | |
> davonrennen die FDP. Das reicht aber nicht. | |
Bild: Erklärt gerne: Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) unterhält sich m… | |
Wie konnte es dazu kommen, dass das „Wir schaffen das“-Prinzip für viele | |
Leute offenbar zu einer unerträglichen Zumutung geworden ist? Darüber | |
sprach ich in dieser Woche mit [1][Jagoda Marinić], Schriftstellerin und | |
Public Intellectual. Im Gespräch sagte sie sinngemäß, es sei auffällig, | |
dass bei vielen Deutschen die Sätze grundsätzlich nach unten gehen, also im | |
Negativen enden. Das trifft selbstverständlich speziell auf unsereins zu, | |
die kritischen Milieus. Unsere beliebtesten Sätze werden mit einer Drohung | |
eingeleitet und enden in einer Apokalypse. Wenn nicht sofort dies und das | |
aufhört oder gemacht wird, dann… ist die Menschlichkeit am Ende, haben die | |
Nazis gesiegt, ist die Klimakatastrophe nicht mehr aufzuhalten. | |
Da müssen wir raus. Das zentrale Versprechen der Moderne ist, dass wir | |
etwas schaffen können. Um das einzulösen, müssen wir erstmal anfangen, | |
unsere Sätze zu einem guten Ende zu bringen, sonst können wir auch in der | |
Realität nichts Gutes anpeilen und schaffen. | |
Jetzt wird man verständlicherweise einwenden: Hä, wo alles immer schlimmer | |
wird mit Erderhitzung, Fossilismus, Kriegen, Terror, Trump, AfD, BSW und so | |
weiter? | |
Gerade deshalb. Der Dagegen-Impuls ist notwendig zum Aufrütteln, aber er | |
reicht nicht. Es wird da regressiv, wo er nur dazu dient, durch einen | |
klassischen Antagonismus oder eine anachronistische Denkfigur eine Welt von | |
gestern zu suggerieren, in der man sich auskennt. | |
Was meine ich damit? Zum Beispiel sollen die Grünen gerade in eine nicht | |
mehr existierende Bundesrepublik zurückgeschubst werden. Deshalb wird jetzt | |
auch mit den alten Begrifflichkeiten hantiert, „Realo-Putsch“, „linker | |
Flügel“, „Mitte“ als Schimpfwort. Es wird getan, als sei es moralische | |
Verwerfung, Hybris oder einfach Irrsinn, den gemäßigt progressiven Teil der | |
liberaldemokratischen Gesellschaft zu repräsentieren und seine | |
Anschlussfähigkeit an den gemäßigt konservativen Teil herstellen zu wollen | |
zum Zwecke einer Mehrheits-Allianz [2][für Zukunftspolitik]. | |
## Die Partei ist erwachsener geworden | |
Letztlich steht dahinter die große Sehnsucht, zurück in den gemütlichen | |
fossil-emanzipatorischen Sozialdemokratismus zu können, in dem alles klar | |
schien und jeder seine Rolle hatte. Die Konservativen von Union und SPD | |
hielten den Laden mit den politischen Mitteln und fossilen Energien des 20. | |
Jahrhunderts am Laufen, die „Progressiven“ hatten die Kritik- und | |
Sprechrolle: Zu wenig Gerechtigkeit, zu wenig Emanzipation. | |
Stimmt ja auch. Nur dass die veränderte physikalische Realität durch die | |
Erderhitzung einen fundamentalen Change bedeutet, der nicht [3][in das alte | |
Lagerdenken einzupreisen] ist und auch nicht auf eine Nazistory zu | |
reduzieren. Eine gute neue Geschichte, die gerade erst entsteht, ist schwer | |
zu erzählen, das merken auch wir Medien im Moment. Viele | |
mediengesellschaftliche Erörterungen, Moralanfälle, Personalisierungs-, | |
Macht- und Heimatfilm-Inszenierungen gehen nicht nur an der Realität der | |
Geschehnisse bei den Grünen vorbei, sondern vor allem an den zentralen | |
Fragen. | |
Ich hoffe, ich ersticke nicht mal an dem Satz, aber: In den letzten Jahren | |
konnte man nicht mehr ignorieren, dass [4][die Partei erwachsener wurde] | |
und bereit, sich unangenehmer staatspolitischer Verantwortung zu stellen | |
([5][Ukraine], [6][Bundeswehr]). Radikal daherreden kann jeder, zynisch | |
sein kann Söder, heulen und davonrennen kann die FDP, aber radikal einen | |
Mittelweg suchen und beschreiben, der die zweifelnden, nörgelnden, | |
nostalgischen und die aufbruchbereiten Teile einer Gesellschaft in die | |
gemeinsame Richtung einer ordentlichen Zukunft bewegt, das ist doch mal ein | |
interessanter und lösungsorientierter Politikansatz. | |
Manche nennen das ja neuerdings „Habeckismus“. | |
7 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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