# taz.de -- Übergriffe bei SOS-Kinderdorf: „Wir haben Kinder allein gelas… | |
> Schläge, Demütigungen, sexueller Missbrauch: SOS-Kinderdorf hat eine | |
> externe Kommission beauftragt, seine Schattenseiten auszuleuchten. | |
Bild: Traurig: Manche Kinder sollen von Kinderdorfmüttern stark vernachlässig… | |
München taz | Die schöne heile Welt sieht anders aus. Eine unabhängige | |
Untersuchungskommission hat am Mittwoch einen Bericht vorgelegt, der einen | |
Blick hinter die Fassade der [1][SOS-Kinderdörfer] ermöglicht. Zum | |
Vorschein kommen dort Fälle von Gewalt durch die Kinderdorfmütter, aber | |
auch andere Mitarbeiter des Vereins, die offenbar zumindest oft auch von | |
der Umgebung geduldet wurden. | |
Die Beispiele, von denen Betroffene der Kommission berichtet hätten, | |
reichten von Vernachlässigung grundlegender Bedürfnisse bis hin zu | |
Vergewaltigungen. So hätten Kinder schon mit zehn Jahren allein zum Arzt | |
gehen müssen; wenn sie krank gewesen seien, seien sie von ihren | |
Kinderdorfmüttern als Simulanten beschimpft worden. Briefe und Geschenke | |
der Herkunftsfamilie seien abgefangen, teils weggeworfen worden, aber auch | |
von wochenlangen Arresten wird berichtet. Ein Mädchen sei auf dem | |
Standstreifen der Autobahn ausgesetzt und erst nach 20 Minuten wieder | |
abgeholt worden. | |
Kinder seien auch stundenlang in den Keller gesperrt worden oder hätten | |
dort auf einer Matratze im Dunkeln die Nacht verbringen müssen. Sie seien | |
mit Essensentzug oder -zwang bestraft worden. In einem Fall sei ein | |
Mädchen, das keine Rollmöpse essen wollte, von seiner Kinderdorfmutter | |
gezwungen worden, so viele Rollmöpse zu essen, bis es sich habe übergeben | |
müssen. Danach habe sie das Erbrochene essen müssen. Auch von exzessiven | |
Schlägen und sexuellem Missbrauch ist die Rede. [2][Die taz hatte bereits | |
über Fälle von Übergriffen berichtet und mit Betroffenen gesprochen.] | |
Auf einen Umstand weist Klaus Schäfer, Honorarprofessor der Universität | |
Bielefeld und Vorsitzender der „Unabhängigen Kommission zur Anerkennung und | |
Aufarbeitung erlittenen Unrechts beim SOS-Kinderdorf e.V.“, gleich zu | |
Beginn seiner Ausführungen hin: Dieser Bericht unterscheide sich von vielen | |
anderen, die von in der Kinder- und Jugendarbeit tätigen Organisationen in | |
den vergangenen Jahren in Auftrag gegeben worden seien. Es sei keine | |
abgeschlossene Studie, sondern mehr ein „Teilschritt“ auf dem Weg der | |
Aufarbeitung. Daher auch der Titel des 162 Seiten starken Ringbuchs: „Der | |
Aufarbeitung verpflichtet“. | |
## Was ist strukturell? | |
Man kennt das ja aus den vergangenen Jahren: Nach langer Zeit des | |
Vertuschens, des Unter-den-Tisch-Kehrens nehmen sich Organisationen ihrer | |
Vergangenheit an, beauftragen externe Kommissionen mit der Untersuchung, | |
Heime, Internate, die Kirchen. Oft ist es das Bekanntwerden handfester | |
Skandale, das zur Erkenntnis führt, dass nur noch Aufklärung hilft. | |
[3][SOS-Kinderdorf ist eine Einrichtung mit einem besonders hehren Ansatz]. | |
Der 1949 von Hermann Gmeiner in Österreich gegründete Verein, den es seit | |
1955 auch in Deutschland gibt, will Kindern mit der Unterbringung in einer | |
Ersatzfamilie, in deren Zentrum die Kinderdorfmutter steht, eine | |
Alternative zum Kinderheim bieten. Derzeit gibt es in Deutschland 38 | |
Kinderdörfer, der Verein hat rund 2000 Kinder in seiner Obhut. Er kann | |
seine Arbeit auch deshalb machen, weil es auf ein besonders hohes | |
Spendenaufkommen zählen kann. Spenden, die der Organisation überwiesen | |
werden in der Überzeugung, hier tue jemand etwas fürs Wohlergehen von | |
Kindern, kümmere sich insbesondere um Kinder, mit denen es das Leben nicht | |
von Haus aus gut gemeint hat. Wenn es just hier um den Kinderschutz | |
schlecht bestellt ist, ist das Entsetzen besonders hoch. | |
„Jugendhilfe ist ein Risikobereich“, sagt Sabina Schutter, | |
Vorstandsvorsitzende des Vereins, am Mittwoch und natürlich – das gestehen | |
auch die Mitglieder der Kommission zu – lässt sich das Fehlverhalten | |
Einzelner nie gänzlich verhindern. Nur: Wann wird eine Häufung einzelnen | |
Fehlverhaltens systematisch? Welche strukturellen Bedingungen ermöglichen | |
manche Übergriffe oder begünstigen sie? Natürlich waren dies Fragen, die im | |
Zentrum der Untersuchungskommission standen. | |
## Endlich mal gehört werden | |
Insgesamt 226 Fälle von Grenzüberschreitungen – ganz unterschiedlicher | |
Schwere – hat die Kommission registriert. Schätzungen über die Höhe der | |
Dunkelziffer gibt es nicht. 33 Fälle wurden an die | |
Generalstaatsanwaltschaft München zur Überprüfung auf eine mögliche | |
Strafrelevanz übergeben. Die Schwere der Fälle habe zwar seit den sechziger | |
und siebziger Jahren, in denen vielfach noch ein völlig anderes | |
Erziehungsverständnis geherrscht habe, schon abgenommen, die | |
Kommissionsmitglieder waren aber offensichtlich erstaunt, welche | |
Schilderungen über Fehlverhalten sie sich auch aus den letzten zehn, | |
zwanzig Jahren anhören mussten. | |
Die Betroffenen hätten sich gefreut, endlich mal gehört zu werden, | |
berichten sie jetzt. Diese Menschen hätten bisher die Erfahrung gemacht, | |
dass abgewiegelt, ihnen nicht geglaubt worden sei, wenn sie sich | |
hilfesuchend an Mitarbeiter von SOS Kinderdorf gewandt hätten. | |
Die meisten von ihnen hätten zwar darauf hingewiesen, dass Übergriffe, wie | |
sie sie erlitten hätten, nicht die Regel gewesen seien. Dennoch befand die | |
Kommission, wie Schäfer ausführte, dass es auch strukturelle Bedingungen | |
gegeben habe, die einen begünstigten Raum für derlei Übergriffe geschaffen | |
hätten. Dazu gehörten beispielsweise Überlastung und Überforderung der | |
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, auch mangelnde Qualifikation und | |
Sensibilisierung. | |
## Dem Anspruch nicht gerecht geworden | |
Ein zentrales Problem, dass dazu geführt habe, dass oft nicht reagiert | |
worden sei, sei auch das Selbstverständnis des Vereins gewesen. „Wir sind | |
gut, wir sind besser“, habe man gedacht, die bessere Alternative zu anderen | |
Angeboten der Jugendhilfe. Wer ein solch überhöhtes Selbstbild habe, für | |
den sei unvorstellbar, dass in diesem Umfeld Unrecht geschehen könne. Das | |
Funktionieren des Systems sei nicht in Frage gestellt worden. | |
„Wir müssen anerkennen, dass wir unserem Anspruch, Kindern ein sicheres | |
Zuhause zu bieten, nicht immer gerecht geworden sind“, sagte Schutter bei | |
der Vorstellung des Berichts. „Und wir haben Kinder allein gelassen.“ | |
Selbst bei Fällen, von denen man gewusst habe, habe man nicht schnell und | |
angemessen reagiert. | |
Schutter versprach, die Empfehlungen der Kommission umzusetzen. Man habe | |
bereits einen Aktionsplan Kinderschutz ins Leben gerufen, der | |
beispielsweise vorsieht, dass in jedem SOS-Kinderdorf eine | |
Kinderschutzfachkraft beschäftigt wird. | |
2 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Dominik Baur | |
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