# taz.de -- Fernsehdoku zu DDR und Mauerfall: Geschichte einer Ausgrabung | |
> Unser Autor hat wichtiges Archivmaterial aus der Nacht des Mauerfalls | |
> gefunden. Um es zeigen zu können, durchlief er eine Sender-Odyssee. | |
Bild: Ein Ausschnitt aus dem fertigen Film „Eine bessere DDR – Utopien aus … | |
Am [1][Abend des 9. November 89] diskutierten zwischen der | |
Schabowski-Pressekonferenz und dem Fall der Mauer seelenruhig und | |
ahnungslos Kirchenleute, Mitglieder der Blockparteien SED, CDU und LDPD | |
sowie Vertreter der neuen Oppositionsgruppen im Französischen Dom über die | |
Zukunft der DDR. Alle hielten am Sozialismus fest und auch an der DDR. Der | |
Führungsanspruch der SED allerdings wurde massiv in Frage gestellt. | |
Offenbar wusste keiner, dass nur ein paar Meter weiter und ein paar Minuten | |
früher [2][Günter Schabowski] (SED) eine neue Reiseregelung verkündet | |
hatte, die „sofort – unverzüglich“ in Kraft treten sollte. | |
Große Teile der Diskussion hat damals ein Team der ARD aufgenommen. Doch | |
nach dem Fall der Mauer am selben Abend verschwand das Material für | |
Jahrzehnte im Archiv. Erst vor zwei Jahren habe ich es wiedergefunden – | |
zufällig. | |
Wenn Journalisten etwas finden, das sie gar nicht gesucht haben, nennen sie | |
es wie die Fischer „Beifang“. Ich bin Journalist – und auch Hugenotte. Ich | |
hatte erfahren, dass [3][deren Gemeinde ihr Westberliner Zentrum im | |
Dezember 2022 zugunsten des Französischen Doms aufgibt]. Und meine | |
Heimatredaktion, die rbb-Abendschau, wollte einen Beitrag: Die Hugenotten | |
verlassen Halensee. | |
Erste Frage: Was gibt es im Archiv? Was beim rbb, was beim Deutschen | |
Rundfunkarchiv (DRA), wo die gesamte Produktion der DDR betreut wird? Was | |
in der ARD? Längst sind deren Archive bundesweit vernetzt. Zum Stichwort | |
„Französischer Dom“ ploppte beim NDR ein überraschender Eintrag auf: fünf | |
Kassetten vom ARD-Studio DDR, nie im Zusammenhang gesendete Ausschnitte | |
jener Diskussion vom 9. November, mit Leuten, die kurz danach politische | |
Karriere machten: [4][Lothar de Maizière] wurde letzter Ministerpräsident | |
der DDR, Manfred Stolpe und Christine Lieberknecht wurden | |
Ministerpräsidenten in Brandenburg und Thüringen, Thomas Krüger wurde | |
Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung und so weiter. | |
## Dokument ersten Ranges | |
Es war eindeutig: Ich hatte ein zeithistorisches Dokument ersten Ranges | |
gefunden. Für meine aktuelle Recherche aber war es nur Beifang. Anfang 2023 | |
habe ich dem rbb vorgeschlagen, das Material zu zeigen. Umgehend kam die | |
Absage: Das sei „special interest“, das sei etwas für einen | |
Zeitungsartikel; Geld habe man ohnehin keins. Es war die erste von | |
insgesamt vier Absagen über eineinhalb Jahre in dem nicht nur von | |
[5][Schlesinger-Affäre] und Finanznot gebeutelten Sender. | |
Da kam die Idee, notfalls allein mit der Französischen Kirche eine | |
Veranstaltung zu machen am authentischen Ort. Deshalb gab es einen Versuch, | |
sich das Material mit der zuständigen rbb-Redaktion mal näher anzuschauen. | |
Doch im Archivnetzwerk der ARD war es nicht mehr zu sehen – der NDR hatte | |
es der ARD-weiten Onlinerecherche entzogen. | |
## Odyssee durch die Sender | |
Jetzt kam Peter Kolano ins Spiel. Er ist beim rbb der Mann für die | |
weltweite Archivrecherche historischer Stoffe. Er versuchte, das Material | |
beim NDR loszueisen. Doch der NDR lehnte ab: Ungesendetes Material | |
unterliege nicht dem Programmaustausch der ARD. Eine Auskunft, die Kolano | |
noch heute empört. Das ARD-Studio DDR war eine Gemeinschaftseinrichtung. | |
Zufällig hatte zuletzt der NDR die Federführung. Als das Studio aufgelöst | |
wurde, wollte zunächst niemand all die Kassetten aus den Wendejahren haben. | |
Fast wären sie gelöscht worden. Doch die Archivarin verhinderte das. Das | |
Material kam nach Babelsberg zur Verwahrung beim DRA und später zum NDR: | |
ca. 3.500 Bänder, nach Auskunft des NDR bis zu 1.000 Stunden Rohmaterial, | |
inzwischen durchgehend digitalisiert. Kolanos Bemühen aber scheitert. | |
Ich schreibe NDR-Chefredakteur Andreas Cichowicz direkt an. Er immerhin | |
gibt das Material vom 9. November sofort frei. Wer aber ist darauf zu | |
sehen? Mit Christoph Wunnicke hatte ich einen versierten DDR-Historiker im | |
Boot, aber auch er kennt nicht alle Redner. Immerhin: Einer hatte gesagt, | |
er käme aus der CDU Nebra. Also einen Screenshot an die örtliche CDU | |
gemailt. Einmal, zweimal. Keine Reaktion. Ich bitte beim Naumburger | |
Tageblatt um Hilfe. | |
Redakteurin Constanze Matthes treibt einen Ex-Kollegen auf, der den | |
Gesuchten zweifelsfrei identifiziert: Es war Hans-Jörg Ulrich, der spätere | |
Landrat des Burgenlandkreises. Dieser CDU-Mann hatte in den Kirchsaal | |
gerufen, dass der Ruf der CDU nicht viel besser sei als der Ruf der SED – | |
„und das mit Recht!“ Er forderte, dass in der Verfassung der DDR hinter | |
„ist ein sozialistischer Staat“ ein Punkt gesetzt werden sollte. Die | |
Passage zum Führungsanspruch der SED sollte raus. Nicht mal die Mitglieder | |
der SED, die an diesem Abend – ungewöhnlich genug – in der Kirche, einer | |
sogar auf der Kanzel, sprachen, sprangen noch für den Führungsanspruch | |
ihrer Partei in die Bresche. | |
## „Sozialismus – Fragezeichen oder Ausrufezeichen“ | |
Es war Stolpe, der der Frage nach dem Zukunftsmodell DDR [6][die Frage | |
„Sozialismus – Fragezeichen oder Ausrufezeichen“] hinzufügte. In dem | |
Filmmaterial gibt es einen unbrauchbaren Schnipsel von einem „Doktor | |
Schwabe“, der als prominenter Katholik eingeführt wurde. Hans-Hermann | |
Hertle, akribischer Chronist des Mauerfalls, hatte mich schon auf | |
Erinnerungen eines Stephan Schwabe hingewiesen. Das Archiv des Erzbistums | |
Berlin ermittelt, dass dieser Experimentalphysiker von der Humboldt-Uni | |
einen katholischen Akademikerkreis gebildet hatte. Auch Konrad Weiß von | |
Demokratie Jetzt war Katholik. | |
Doch dominant am Abend waren Protestanten: Stolpe war | |
Konsistorialpräsident, Lothar de Maizière Vizepräses der Synode des Bundes | |
der Evangelischen Kirchen, Gottfried Müller Chefredakteur einer | |
evangelischen Wochenzeitung, Thomas Krüger Vikar; Konrad Elmer, Rainer | |
Eppelmann und Werner Krätschell waren Pfarrer wie Christine Lieberknecht, | |
die sich in scharfem Ton dagegen verwahrte, dass die „DDR Müllkippe der | |
Bundesrepublik Deutschland ist“. Bei der Massendemonstration auf dem Alex | |
fünf Tage zuvor hatten vor allem Kulturleute wie Stephan Heym, Christa | |
Wolf, Jan Josef Liefers gesprochen – und nur wenige wurden politisch | |
wichtig wie Marianne Birthler, Gregor Gysi oder Lothar Bisky. Im | |
Französischen Dom war es umgekehrt: Hier sprach die politische Elite von | |
morgen. Vor allem die sogenannten Reformer aus der Ost-CDU machten Karriere | |
auf jeder Ebene. | |
Inzwischen hatte ich weitere Absagen, auch vom mdr, aus dessen Sendegebiet | |
ja mehrere Akteure kamen. Erst im Frühjahr drehte sich der Wind: rbb24, | |
Radio 3 und Gabriele von Moltke, Leiterin der „Abendschau“, zeigten | |
Interesse. Im Mai gab Chefredakteur David Biesinger sein Okay. Im September | |
bekam ich zwei Tage, um das Material zu schneiden. Jetzt steht es in der | |
ARD-Mediathek: „Eine bessere DDR – Utopien aus der Wendenacht – 9. Novemb… | |
1989 im Französischen Dom“. Der Film wird am 17. Oktober auf einer | |
ausgebuchten Veranstaltung im Französischen Dom gezeigt und mit Zeitzeugen | |
wie Lieberknecht und Marianne Birthler diskutiert. | |
16 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Christian Walther | |
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