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# taz.de -- Kriege im Nahen Osten: Immer sind die anderen schuld
> Das mantraartig vorgetragene Recht Israels auf Selbstverteidigung
> verschließt in Deutschland den Blick auf die brutale israelische
> Kriegsführung.
Bild: Systematische Entmenschlichung arabischen Lebens
Elf Mal sei sie im vergangenen Jahr in den Nahen Osten gereist, berichtet
[1][Außenministerin Annalena Baerbock in der ARD-Talkshow von Caren Miosga
stolz]. Davon neun Mal nach Israel. Weil es ihr Ansatz als Außenministerin
sei, immer alle Perspektiven in den Blick zu nehmen. Dass sie damit genau
die Unausgewogenheit ins Schaufenster stellte, die die Wahrnehmung der
deutschen Haltung in meiner Wahlheimat Beirut und weiten Teilen der Region
prägt, war ihr vielleicht gar nicht bewusst. Die nämlich, dass auch vor dem
Hintergrund einer wertegeleiteten feministischen Außenpolitik das Leid der
einen sehr wohl schwerer wiegt als das der anderen.
Natürlich war der Beistand gegenüber Israel nach den Hamas-Massakern am 7.
Oktober richtig. Was dann aber folgte, war eine Vergeltung, die jede
Verhältnismäßigkeit vermissen ließ: bislang mindestens 41.000 Tote in Gaza.
Unzählige Kinder mit amputierten Gliedmaßen. Vergewaltigte und missbrauchte
Häftlinge. Systematisches Aushungern. Immer wieder Vertreibung der
Bevölkerung. Zerstörte Universitäten, Kirchen, Moscheen, Krankenhäuser und
Schulen. Auslöschung von Kultur, Tradition und Identität. Ob das Völkermord
ist, darüber wird der Internationale Gerichtshof entscheiden.
Und jetzt der Libanon. Es stimmt – die Hisbollah hatte am 8. Oktober 2023,
als Israel bereits den Gazastreifen attackierte, die Front im Süden
eröffnet. Sie schoss Raketen auf die Shebaa-Farmen, nach internationalem
Recht illegal von Israel besetztes Land. Lange war es ein Balanceakt, dann
lief die Situation immer mehr aus dem Ruder. Bis die Waffen in Gaza
schwiegen, würde man weiterschießen, wiederholte Hisbollah-Chef Hassan
Nasrallah. Einen „eigenen“, allumfassenden Krieg mit dem Erzfeind wollte er
nicht. Den Zusammenbruch dieses Kalküls bezahlte Nasrallah, der zuvor noch
einer Waffenruhe zugestimmt haben soll, letztlich mit dem Leben. Seither
tobt der Krieg völlig entfesselt auch im Libanon.
Täglich [2][fliegt die israelische Armee IDF jetzt Luftangriffe auf
Beirut]. „Wir bomben euch zurück in die Steinzeit“, tönten israelische
Politiker schon vor Monaten. Die Wucht des Krieges lässt wenig Zweifel
daran, wie ernst das gemeint war: Innerhalb von 14 Tagen wurden 1.500
Menschen getötet, 2.100 seit vergangenem Oktober, darunter 130 Kinder,
hunderte Frauen. Mal kommen Evakuierungsaufforderungen um 3, dann um 4 Uhr
in der Nacht, mal bleiben sie aus. Eine große israelische Tageszeitung
fragte noch am Tag des Beginns der Bodenoperation am 30. September, ob der
Libanon nicht auch ein Teil Groß-Israels sei.
In Deutschland dagegen haben weder die Zahlen aus Gaza noch die Eskalation
im Libanon zu einem echten Umdenken geführt, zu einem veränderten Agieren
gegenüber der israelischen Führung. Einer veränderten Sicht auf die Dinge.
Alles wird weiter subsumiert unter Israels Recht auf Selbstverteidigung.
Sowieso seien die Israeli Defence Forces (IDF) die moralischste Armee der
Welt. Kriegsverbrechen? Jede*r Tote ein Opfer der Terroristen. Menschliche
Schutzschilde? Israel habe keine Wahl, sei doch existenziell bedroht.
Und wer über die bedauerlichen „Kollateralschäden“ hinausgeht, fantasiert
gar von einer „Avantgarde des Westens“ (Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt),
die sich da Sturm bricht. Die Vernichtungslandschaft in Gaza wird so zu
einem Triumph der „Kinder des Lichts“ auf ihrem Weg zum „totalen Sieg“
(Netanjahu) erklärt.
Das real existierende Israel wollen große Teile der politisch-medialen
Elite in Deutschland weiterhin nicht wahrnehmen. Vielmehr ergeht man sich
in der Wohlfühlprojektion der bunten Demokratie. Dabei wird das Land längst
von einer breit verankerten, rassistischen Siedlerbewegung geprägt. Früher
noch als „Irre“ abgetan, sitzen sie heute an den Schalthebeln der Macht.
Der Libanonkrieg ist äußerst populär im Land, auch die zionistische Linke
trägt ihn mit. Dabei offenbaren sich schon jetzt Parallelen zur brutalen
Kriegsführung in Gaza. In einer am Mittwoch auf seinem X-Account
veröffentlichten Ansprache an das libanesische Volk stellt Netanjahu
unumwunden klar: „Befreit“ ihr euch nicht von der Hisbollah, erwartet euch
die gleiche Zerstörung, das gleiche Leid wie in Gaza – als sei das ganz
automatisch so und er selbst daran im Grunde gar nicht beteiligt. Sie sind
da, die Worte, doch wer hört hin?
Schweigen und Schulterzucken
Was ich von meinen libanesischen Freund*innen vernehme, was ich auf X
lese, ist große Wut, aber auch tiefe Verletztheit. Darüber, dass sie Bilder
hinaus in die Welt senden, von getöteten Frauen und Kindern, von ihrer
geliebten Hauptstadt, auf die jetzt täglich Bomben fallen. [3][Von 1,3
Millionen Vertriebenen], einem Sechstel der Gesamtbevölkerung – und dass
das, was sie am anderen Ende erwartet, Schweigen ist oder Schulterzucken,
flankiert von Worten, die all das zu rechtfertigen scheinen: Terroristen,
Hochburgen, gezielt, menschliche Schutzschilde, Recht auf
Selbstverteidigung.
[4][Die libanesische Autorin Lina Mounzer] schreibt dieser Tage von der
systematischen Entmenschlichung arabischen Lebens: „Die westliche Presse
übersetzt uns in eine Sprache, die ihnen unsere Auslöschung erträglicher
macht. Unsere Viertel sind nicht mehr die Orte, an denen wir spielten,
aufwuchsen, Kinder großzogen und Freunde besuchten – sie sind Hochburgen.“
Die Leiber unserer Männer sind nicht mehr die geliebten Körper, an die wir
uns schmiegten, die Hände, die uns hielten oder die starken Arme, die uns
trugen, die weichen Lippen, die uns gute Nacht küssten. Sie sind
„Verdächtige“, „Militante“, „Terroristen“, und ihr Tod ist immer
gerechtfertigt, denn sie sind Männer, und unsere Männer sind Schurken – und
so war es schon immer, so sind wir schon immer gewesen, für sie.“
Auch ich erwähne in diesem Text, wie mir dann bewusst wird, explizit die
getöteten Frauen und Kinder, weil ich denke, dass getötete arabische Männer
in Deutschland sowieso automatisch als Terroristen gelten. Die Großväter,
Brüder und Onkel, die Apotheker, Taxifahrer und Tierärzte. Ich kann deshalb
nur im Ansatz ahnen, was arabischstämmige Menschen in Deutschland immer
wieder erleben. Wie abfällig und geringschätzig man sie beäugt, wie sie
alle miteinander in einen Topf geschmissen werden, Antisemiten sowieso,
sind die ja alle, Deckel drauf, fertig.
Bloß keine Auseinandersetzung, bloß kein Hinhören. Augen zu, Ohren zu – und
den Mund besser auch geschlossen halten. Das mantraartig vorgetragene Recht
Israels auf Selbstverteidigung, es funktioniert wie ein besonders
elastisches Gummiband, das immer weiter um alles israelische Handeln
gespannt wird. In der Logik der deutschen Staatsräson genügt es, wenn
Benjamin Netanjahu referiert, die Hisbollah habe in praktisch jedem Haus im
Libanon Raketen gelagert, in Küchen, Garagen, Wohnzimmern. Schulterzucken,
tja, dann ist das wohl so, schon wieder eine Bombe und Dutzende zivile
Opfer gerechtfertigt.
Im Libanon haben wir tagelang nur Witze gemacht, ob man heute schon seine
Rakete geputzt habe. Das Gummiband hält auch dann, wenn Rettungsdienste,
die nach den Luftangriffen zu den Einschlagsstellen rasen, um Tote und
Verletzte zu bergen, bombardiert werden, mit der aberwitzigen Behauptung,
darin würden Waffen für die Hisbollah transportiert. 40
Rettungssanitäter*innen wurden an drei Tagen im Libanon getötet,
zehn Feuerwehrleute an einem Tag allein. Sie sind da, die Bilder, doch wer
sieht hin?
## Systematische Entrechtung durch Israel
Jeder Hinweis auf Selbstverteidigung, jedes Wort wie „Hochburg“,
„Terrorist“, „menschlicher Schutzschild“ dient dazu, das Leiden der
Menschen in Nahost für den Westen erträglich zu machen, es, wie Mounzer
schreibt, in gut verdauliche Portionen zu verpacken, nach denen man noch
beruhigt schlafen gehen kann. Gott sei Dank sind wir die Guten und am Ende
sind immer Hamas oder Hisbollah schuld, jaja, das ergibt schon Sinn. So
richtig verstehen kann man dieses Leben da ja auch nicht, warum haben die
so viele Kinder, die alle Mohammad oder Fatima heißen, ist es dann genauso
schlimm, wenn eines stirbt, die lieben anders, nicht so wie wir, warum ist
nicht alles ein bisschen mehr so wie bei uns – dann gelte denen ja auch
unser Mitgefühl.
Und überhaupt, so ist eben Krieg, was soll Israel da machen, umringt von
Feinden in diesem antisemitischen Loch namens Nahost. Als die Einzigen, die
dort „unsere“ Werte verteidigen, ganz praktisch eigentlich, dass die den
Kampf gegen den islamistischen Terror schön weit weg von uns führen. Ob es
wohl auch und vielmehr um ein Ende von Besatzung, systematischer
Entrechtung und Vertreibung geht? Das sei dahingestellt, bloß nicht
vergessen, was wir Deutschen getan haben, denkt an Auschwitz, ihr alle,
egal, wo, und auch egal, ob euch gerade Bomben auf den Kopf fallen und ihr
eines eurer Kinder beerdigt.
Die wenigen Worte des Mitgefühls werden nie in Taten übersetzt. Die Aufrufe
zur Mäßigung und Deeskalation verpuffen in der Luft. Oder explodieren
gemeinsam mit der Ladung von 85 Tonnen Bomben über den Straßen von Beirut.
Am Donnerstag kündigt Kanzler Olaf Scholz an, bald wieder Waffen an Israel
liefern zu wollen. Zur gleichen Zeit, da Israel ein interkulturelles
Begegnungszentrum, mehrere Gebäude mitten in Beirut und Stellungen der
UN-Friedensmission im Libanon bombardiert.
Denn was man in Deutschland noch immer nicht wahrhaben will: Es gibt im
Israel des Jahres 2024 keinen Plan für Frieden. Genügend Partner in der
arabischen Welt fänden sich längst, wie auch der jordanische Außenminister
jüngst noch einmal erhitzt und verärgert versichert hat. Man sei vor dem
Hintergrund einer überfälligen Zweistaatenlösung bereit, die Sicherheit des
jüdischen Staates zu garantieren, äußerte er.
Doch Netanjahu und [5][seine messianischen Koalitionspartner] wollen einen
palästinensischen Staat verhindern. Die Politik in Israel verweigert sich
ihrer Kernaufgabe, die es wäre, politische Lösungen anstelle von immer mehr
Kriegen zu präsentieren. In Deutschland verscherzt man es sich aus falsch
verstandener Solidarität langfristig mit den progressiven Akteuren in der
Region, die die eigentlichen Partner beim Streben nach Frieden in Nahost
sein sollten, die uns aber mit der Unterstützung einer
ethnonationalistischen israelischen Regierung nicht mehr über den Weg
trauen.
Mounzer schreibt: „Fragt man heute einen Araber, was die schmerzhafteste
Erkenntnis des vergangenen Jahres war, wird er sagen: Es ist die Entdeckung
des Ausmaßes unserer Entmenschlichung – so tiefgreifend, dass es unmöglich
ist, die Welt jemals wieder auf die gleiche Weise zu betrachten.“
13 Oct 2024
## LINKS
[1] https://www.ardmediathek.de/video/caren-miosga/ist-der-krieg-im-nahen-osten…
[2] /-Nachrichten-im-Nahost-Krieg-/!6042133
[3] /Lage-im-Libanon/!6041675
[4] https://themarkaz.org/a-year-of-war-without-end/
[5] /Drohender-Krieg-im-Nahen-Osten/!6037027
## AUTOREN
Hanna Voß
## TAGS
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