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# taz.de -- Eskalation im Nahen Osten: Angst vor dem großen Krieg
> Iran droht Israel mit Angriffen. In der Region wächst die Angst, während
> viele Iraner auf das Ende des Regimes hoffen.
Bild: Bei der Gedenkveranstaltung für den Anführer der Hamas, Nasrallah, am 4…
Der iranische Revolutionsführer Ajatollah Chamenei kann sich nicht
entscheiden, ob Israel ein „tollwütiger Hund“ oder eher ein „blutrünsti…
Wolf“ ist. So bezeichnete der Kopf des islamistischen Regimes, das die
iranischen Frauen unterdrücken, schlagen, verhaften, vergewaltigen, foltern
und hinrichten lässt, den jüdischen Staat am Freitag, als er zum ersten Mal
seit fünf Jahren das Freitagsgebet in Teheran leitete. Das letzte Mal war
Chamenei ans Mikrofon getreten, nachdem Kassem Soleimani, Kommandeur der
Kuds-Einheit der iranischen Revolutionsgarden, bei einem amerikanischen
Luftschlag in Baghdad getötet wurde.
Der Kampf der Palästinenser gegen das „Usurpatoren-Regime“ sei legitim.
Israel das Werkzeug der USA, um die Ressourcen der Region zu kontrollieren.
Jeder Schlag gegen dieses Regime sei daher ein Dienst an der Region und an
der gesamten Menschheit, meint der Ajatollah. Der „Al-Aksa-Sturm“, also das
Töten, Vergewaltigen und Entführen von Juden und Beduinen am 7. Oktober,
habe das israelische Regime um 70 Jahre zurückgeworfen, es kämpfe um sein
Überleben.
Welch drastische Folgen die iranische Staatsdoktrin, Israel müsse um jeden
Preis zerstört und Jerusalem „befreit“ werden, auch für die Menschen in
Gaza und im Libanon hat, verschwieg der Revolutionsführer. Er drohte
stattdessen mit einem erneuten Angriff Irans auf Israel.
In der Nacht auf Mittwoch hatte Teheran 181 ballistische Raketen auf Israel
abgefeuert, anders als im April [1][ohne Vorwarnung]. Zwar lässt sich
dieser Angriff kaum als Erfolg verkaufen: Die meisten Geschosse wurden
abgefangen oder schlugen weitab von jedem Ziel in unbewohntem Gelände ein,
einige allerdings sollen Armeestützpunkte getroffen haben. Im von Israel
besetzten Westjordanland wurde dabei ein Palästinenser getötet. Dennoch hat
Regierungschef Netanjahu sofort einen [2][harten Gegenschlag angekündigt].
Währenddessen ist Bir Hassan zur Geisterstadt geworden. Das Viertel liegt
am nördlichen Rand der zusammen Dahiyeh genannten Vorstädte von Beirut. Die
Straßen scheinen ausgestorben, und die Fenster der teuren Wohnblöcke
bleiben auch am Abend dunkel. Selbst die Straßenkatzen, die sonst zwischen
den geparkten Autos umherhuschen, scheinen verschwunden – ebenso wie viele
der Autos. Das Brummen einer israelischen Drohne begleitet die wenigen, die
noch in Bir Hassan geblieben sind, durch den Tag.
## Begonnen hat die Eskalation am 7. Oktober 2023
Eine ältere Frau, die Wangen wettergegerbt, das schwarze Kopftuch tief in
die Stirn gezogen, blickt von einem der Balkone hinunter und verschwindet
dann schnell wieder in der Wohnung. Wenn sie von ihrem Balkon aus Richtung
Osten blickte, würde sie in der Ferne zwei Dinge erkennen: den gigantischen
Gebäudekomplex der Botschaft der Islamischen Republik Iran, mit ihren
unverkennbar persischen Mosaiken und dem Plakat, das an der Außenwand zur
Straße hängt. Darauf das „Who’s who“ der Revolutionsgarden und der iran…
angeführten „Achse des Widerstandes“: Kassem Soleimani, Hassan Nasrallah.
Und richtete sie den Blick etwas weiter die Straße hinauf, sähe sie ein
Gebäude, dessen obere beide Stockwerke nur noch Gerippe sind. Ein
israelischer Luftangriff, der wohl einer Hisbollah-nahen Person galt, hat
es zerstört.
Begonnen hat diese Eskalation des Nahostkonflikts am 7. Oktober 2023, als
Mordkommandos der Hamas Israel überraschen konnten, den Sperrzaun zwischen
Gaza und Israel durchbrachen, Männer, Frauen und Kinder, Alte und Junge
ermordeten und nach Gaza entführten. Die israelische Armee brauchte
Stunden, um Herr der Lage zu werden. Die israelische Regierung hatte nun
zwei Optionen, die Wahl zwischen Pest und Cholera. Option Nummer eins: eine
begrenzte militärische Antwort gegen Protagonisten und Gebäude der Hamas,
dann eine Waffenruhe, um die Geiseln gegen palästinensische Gefangene
auszutauschen. Iran und alle anderen Islamisten in der Region hätten das
als Triumph gefeiert. Der beispiellose Terrorangriff von Irans Truppe in
Gaza wäre belohnt, weitere solche Operationen ermutigt worden.
Option Nummer zwei: der Hamas ernsthafte Verluste zuzufügen, das Leben der
Geiseln hintanstellen und massiv militärisch gegen die Infrastruktur der
Hamas vorgehen, was angesichts der Schutzschildstrategie der Terroristen
absehbar zu sehr vielen zivilen Opfern führen und dem Image Israels in der
Welt schweren Schaden zufügen würde. In beiden Fällen konnte Israel nur
verlieren.
Die israelische Regierung entschied sich für für Option Nummer zwei, unter
anderem auch, weil Premier Benjamin Netanjahu keine Strategie für eine
Deeskalation hat oder haben will. Er war es ja selbst gewesen, der die
Hamas in den vergangenen Dekaden groß werden ließ, um die Palästinensische
Autonomiebehörde zu schwächen. Die Hamas-Strategen bekamen also, was sie
wollten, Zehntausende starben durch Bomben in Gaza. Und doch hatte sich die
Terrororganisation verschätzt, weil sie nicht mit einer so massiven
Operation rechnete.
Weiter ging die Eskalation einen Tag später, am 8. Oktober 2023, als die
Hisbollah Israel mit Raketen angriff. Unter dem Aufmerksamkeitsradar der
Weltöffentlichkeit ist seitdem kein Tag vergangen, an dem keine Raketen aus
dem Libanon auf Israel abgefeuert wurden. Hisbollah-Führer Nasrallah
verknüpfte seine Raketenkampagne mit der Bedingung, er werde erst damit
aufhören, wenn es einen Waffenstillstand in Gaza gebe. Auch er hatte sich
verschätzt. Israel gab nicht klein bei und attackierte schließlich die
Führungsebene und das mittlere Management des militärischen Flügels der
islamistischen Organisation. Auch im Libanon leiden nun die Menschen, über
tausend sind bereits gestorben, viele sind als Binnenflüchtlinge
gestrandet.
## Viele in Israel haben den Tod von Nasrallah begrüßt
Spätestens seit dem 27. September leert sich die Beiruter Vorstadt Bir
Hassan. An jenem Freitag erschütterte eine Explosion die Vorstadt: Mit
bunkerbrechenden Bomben zielte Israel auf Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah,
der in einem Bunker unter Wohnblöcken im Viertel Haret Hreik sitzt. Einige
Tage später war klar: Der [3][Hisbollah-Chef ist tot]. In der Nacht rief
das israelische Militär an verschiedenen Orten Dahiyehs zur Evakuierung
auf. So ging es seitdem weiter: In der Nacht, meist gegen Mitternacht,
kommt die erste Evakuierungsaufforderung. Nach einer halben Stunde ertönt
die erste Explosion. Das bisherige Maximum waren fünf verschiedene
Aufforderungen in einer Nacht. Etwa eine Woche nach dem Tod Nasrallahs
erschütterte erneut eine Explosion Dahyieh. Dem Geräusch der Explosion
zufolge kamen wohl auch hier bunkerbrechende Bomben zum Einsatz. Das Ziel
war nach Angaben Israels Hashem Safieddine, der Nachfolger Nasrallahs.
Immerhin waren zu diesem Zeitpunkt wohl kaum noch Zivilistinnen und
Zivilisten in Dahiyeh.
Viele in Israel – und einige in den benachbarten Staaten – haben den
[4][Tod von Nasrallah begrüßt]. Auf dem regierungstreuen Kanal 14 wurde mit
Musik und Israel-Fähnchen gefeiert, im moderateren Kanal 12 lud der
Talk-Show-Host Amit Segal seine Gäste ein, mit Arak anzustoßen. Die meisten
lehnten ab. Der rechtsextreme Polizeiminister Itamar Ben-Gvir verteilte bei
einer Sitzung mit Parteimitgliedern Baklava. „Lasst uns so viele von ihnen
unter die Erde bringen, wie wir können“, sagte er. In den Straßen von Tel
Aviv und Jerusalem erlebte ein Song aus dem Libanonkrieg 2006 ein Comeback.
Darin heißt es über Nasrallah: „Wir schicken dich zu Allah, und mit dir die
Hisbollah.“ Mit seiner modernen Luftwaffe und Raketentechnik ist Israel der
Hisbollah, die ebenfalls über moderne Raketen und insgesamt über ein
geschätztes Arsenal von 150.000 Raketen verfügt, noch immer voraus.
Schlecht hingegen läuft offenbar die Bodenoffensive des israelischen
Militärs im Südlibanon, weswegen die Ausgelassenheit in Israel nicht lange
anhielt. Schon in den ersten 24 Stunden nach dem israelischen Vorrücken in
den Libanon am Dienstag wurden laut der israelischen Armee bereits acht
Soldaten bei Gefechten mit der Hisbollah getötet. Mindestens neun sind es
inzwischen, nach Angaben der Hisbollah deutlich mehr, über 20. Das Gelände
ist Medienberichten zufolge vermint, die Hisbollah hat sich tief in die
Dörfer und die hügelige Landschaft des Südlibanon eingegraben – teils
wortwörtlich. Wer in einem bekannten Gelände auf Angreifer wartet, hat den
militärischen Heimvorteil. In dem Guerillakrieg, der im Süden wohl ins Haus
steht, hat Israel weniger strategische Vorteile. Technologische
Überlegenheit ist hier tendenziell weniger kriegsentscheidend. Die
Meldungen aus der Kampfzone befeuern in Israel die Angst vor einem langen
und verlustreichen Krieg.
Die Lage im Libanon entwickelt sich derweil zur humanitären Katastrophe –
und beginnt in manchen Punkten an Gaza zu erinnern. Aus drei Gebieten im
Libanon sind die Menschen bereits geflohen: aus Südbeirut, aus dem
Südlibanon und aus der Bekaa-Ebene im Ostlibanon, in allen drei Gebieten
ist die Hisbollah stark präsent. Der Libanon ist ein flächenmäßig kleines
Land, dazu noch seit 2019 von einer schweren Wirtschaftskrise betroffen. So
verdienen nach dem Währungscrash in den Jahren 2019 und 2020 etwa Soldaten
der libanesischen Armee Berichten zufolge noch etwa 200 US-Dollar im Monat
– während die Mietkosten für eine kleine Wohnung in einem der als sicher
geltenden Viertel von Beirut oft bei 400 US-Dollar beginnen.
Der Libanon hat – im Gegensatz zu Israel – kaum Ressourcen, um seiner
Bevölkerung zu helfen. Fast jeder hier kennt Geschichten von Betroffenen.
Eine junge Frau namens Rayan etwa lebt in Dekweneh, einem christlich
geprägten Viertel in Ostbeirut. Es gilt als sehr sicher. Ihr Freund lebte
mit seiner Familie in Dahiyeh – bis zur vergangenen Woche. Das Haus der
Familie existiert nicht mehr. Sie alle sind nun bei Rayan untergekommen, in
einer kleinen Zweizimmerwohnung. Eine andere junge Frau flüchtete mit ihrer
Familie aus dem Südlibanon in die südliche Großstadt Saida – nur um dort
erneut [5][vor Luftschlägen um ihr Leben zu fürchten] und die Weiterflucht
zu planen.
In den sicheren christlichen Vierteln Beiruts wächst bei so manchen das
Misstrauen: Was ist, wenn unter den aus dem Süden Flüchtenden
Hisbollah-Mitglieder sind? So manche Wohnung dort bleibt leer. Die Besitzer
weigern sich, an Flüchtlinge aus dem Süden zu vermieten.
## Die Region steht am Rande eines großen Krieges
Weil Israel nun schon zum zweiten Mal einen Luftangriff auf Beirut und
nicht nur auf die südlichen Vororte flog, wächst die Sorge vor einer
erneuten Welle an Flüchtenden. Was, wenn immer mehr Orte im Libanon – denn
das israelische Militär weist immer mehr Dörfer im Süden, teils über
zwanzig Kilometer tief im Landesinneren, zur Evakuierung an – zum
Kriegsgebiet werden? Die UNHCR, das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen,
warnt: Die fast 900 verfügbaren Notunterkünfte im Libanon sind nun gefüllt.
Die israelischen Luftangriffe der vergangenen zwei Wochen seien weltweit
die „massivsten der vergangenen 20 Jahre, abgesehen vom Gazastreifen“,
sagte die Chefin der britischen NGO Airwars der Washington Post. Binnen
zwei Wochen sind mehr als 1.200 Menschen getötet worden. Nach libanesischen
Angaben wurden 1,2 Millionen vertrieben. Am Montag drangen israelische
Truppen erstmals seit fast zwei Jahrzehnten in den Libanon ein. Die Armee
spricht von „begrenzten, gezielten Vorstößen“. Doch die stetig wachsende
Liste an Evakuierungsaufforderungen lässt einen groß angelegten Einmarsch
befürchten.
Die Region steht [6][am Rande eines großen Krieges] und sowohl mit Blick
auf den Libanon als auch auf Iran stellt sich für Israel die Frage: Was
will man erreichen? Und lässt es sich überhaupt militärisch erreichen?
Als Ziel der Operation im Libanon gilt zum einen, die rund 60.000 aus dem
israelischen Grenzgebiet vertriebenen Bewohner zurückzubringen und die
Hisbollah-Kämpfer von der Grenze zurückzudrängen. Die auf Israel
gerichteten Raketen und die Kämpfer der Hisbollah-Eliteeinheit Radwan
hinter der Grenze waren für viele Israelis schon vor dem 7. Oktober eine
ständige Bedrohung. Nach den Massakern der Hamas ist man sich im ansonsten
tief gespaltenen Israel einig, mit dieser Bedrohung nicht länger leben zu
können. Das erklärt die breite Unterstützung in der Bevölkerung für die
Offensive gegen die Hisbollah. Selbst der Parteichef der linken
„Demokraten“, Jair Golan, ist dafür und fordert gar eine „temporäre
Besatzung“ eines schmalen libanesischen Grenzstreifens.
Regierungschef Netanjahu aber hat weitreichendere Ziele. Er kündigte bei
einer Rede vor den Vereinten Nationen vergangene Woche erneut an, die
Hisbollah müsse „besiegt“ werden. Dieses Ziel wurde zwar schon gegen die
wesentlich schlechter ausgerüstete Hamas im Gazastreifen nicht erreicht, wo
nach einem Jahr und an die 41.000 toten Palästinensern, darunter viele
Frauen und Kinder, noch immer gekämpft wird. Doch für Netanjahu könnte das
kein Widerspruch sein: Seine Kritiker werfen ihm schon lange vor, dass er
den Krieg bewusst in die Länge ziehe. Der Schlag auf Nasrallah kam laut der
libanesischen Regierung, kurz nachdem die Hisbollah ihre Bereitschaft für
eine 21-tägige Waffenruhe erklärt hatte.
## Die Frage ist nicht, ob Israel zurückschlägt, sondern wann
Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass das militärische Vorgehen Israels
im Libanon in der Vergangenheit Bedrohungen höchstens kurzfristig beseitigt
hat. Die Hisbollah selbst konnte nach ihrer Gründung an Macht gewinnen,
nachdem Israel im Libanonkrieg 1982 die Palästinensische
Befreiungsorganisation (PLO) von Jassir Arafat aus dem Land vertrieb. Der
getötete Nasrallah nahm seinen Platz an der Spitze der Organisation ein,
nachdem sein Vorgänger Abbas al-Musawi 1992 von einem israelischen
Kampfhubschrauber getötet wurde. Und auch diesmal scheint es wie schon in
Gaza keinen Plan für den Tag danach zu geben.
Israel habe seine „geheimdienstliche und militärische Überlegenheit
bewiesen“, schreibt Sanam Vakil, die Leiterin der Nahost- und
Nordafrika-Abteilung des britischen Thinktanks Chatham House. Doch obwohl
das Land erfolgreich die Ausschaltung von Bedrohungen vorantreibe, habe die
Geschichte gezeigt, dass militärische Siege Israel nie die Sicherheit
gebracht hätten, die es suche. „Sowohl die Hisbollah als auch die Hamas
sind zwar geschwächt, aber noch lange nicht am Ende. Die Fortsetzung der
Kämpfe wird zweifellos eine neue Generation von Kämpfern mobilisieren, wenn
nicht sogar radikalisieren.“
Auch mit Blick auf den Iran ist weniger die Frage, ob Israel zurückschlagen
wird, sondern wann und wie. Vorstellbar sind Angriffe auf militärische oder
wirtschaftliche Ziele oder ein Schlag auf das iranische Atomprogramm.
Letztere Option wurde in Israel nach dem Raketenangriff am Dienstag
mehrfach gefordert. Experten bezweifeln jedoch, dass die israelische Armee
die übers Land verteilten und oft unterirdisch geschützten Anlagen in einem
einzigen Angriff erreichen könnte. Ein Angriff auf weniger geschützte
Anlagen könnte hingegen den Iran weiter in seinen Bestrebungen befeuern,
eine Atombombe herzustellen. Auch militärische Ziele wie die iranischen
Drohnen und Raketenstützpunkte sollen laut Medienberichten unterirdisch
gebaut und darauf ausgelegt sein, Luftangriffen zu widerstehen.
Andere Aufrufe zur Zurückhaltung aus der internationalen Gemeinschaft
dürften in Israel auf taube Ohren fallen. Die wachsende Kritik an der
israelischen Kriegsführung und der humanitären Katastrophe im abgeriegelten
Gazastreifen haben das Land zunehmend isoliert. Erst am Donnerstag warf
der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell israelischen Soldaten wegen Angriffen
auf Sanitäter in Beirut eine Verletzung des humanitären Völkerrechts vor.
Die Verhängung eines Einreiseverbotes gegen UN-Generalsekretär António
Guterres am Mittwoch verstärkt diese Entwicklung weiter. Dieser habe den
Raketenangriff des Iran nicht eindeutig genug verurteilt, sagte
Außenminister Israel Katz. Guterres hatte auf Twitter geschrieben: „Das
muss aufhören, wir brauchen eine Waffenruhe.“
Verkalkuliert hat sich aber neben Hamas und Hisbollah auch das Regime in
Teheran. Bis zum April konnte es seinen Stellvertreterorganisationen in der
„Achse des Widerstands“ die Arbeit an der Zerstörung Israels überlassen.
Angesichts der Tötung des Hamas-Führers Ismael Hanijeh in einem Gästehaus
der Revolutionsgarden durch Israel mitten im Iran sah sich das Regime aber
genötigt, zum ersten Mal selbst Israel anzugreifen. Am 13. April waren 300
Raketen und Drohnen in Richtung Israel gestartet. Der Angriff war vorher
angekündigt worden, wurde zu 99 Prozent abgewehrt und noch in der Nacht von
der Nachricht des iranischen Regimes auf Twitter begleitet, die Sache sei
damit „abgeschlossen“.
## Ein Schlag gegen die iranische Öl-Infrastruktur wird diskutiert
[7][Der Angriff] markierte eine Zäsur. Erstmals in der Geschichte beider
Staaten hatte der Iran Israel offen attackiert. Nach der Tötung Nasrallahs
und der empfindlichen Verluste von Hisbollah folgte in dieser Woche der
Angriff mit ballistischen Raketen. Das setzt nun aber den amerikanischen
Präsidenten Joe Biden unter Druck, den lautstarken Forderungen der
amerikanischen Rechten nachzugeben und Israel auch bei einem Angriff auf
den Iran Rückendeckung zu geben.
Sehr wahrscheinlich wird der israelische Gegenschlag härter ausfallen als
im April. Aktuell wird laut US-Präsident Joe Biden zwischen den USA und
Israel bereits ein Schlag gegen die iranische Öl-Infrastruktur diskutiert.
Lediglich einen Angriff auf das iranische Atomprogramm lehnt Washington ab.
Doch Netanjahu hat sich im vergangenen Jahr so häufig über die Forderungen
seines engsten Verbündeten hinweggesetzt, dass diese Ansage eher als
Ratschlag denn als strikte Vorgabe gelten kann.
Beobachter in Israel weisen darauf hin, dass der Premier sich schon lange
eine militärische Eskalation mit dem Iran wünsche, welche die USA zu einer
Teilnahme zwingen und möglicherweise zu einem amerikanischen Angriff auf
Teheran würde. Zugleich wird befürchtet, dass Putin seine Verbindungen zum
iranischen Regime vertieft und Öl ins Feuer gießt, um noch mehr Chaos und
Flüchtlingströme zu erzeugen, die den Westen destabilisieren sollen.
Bereits vor dem iranischen Angriff auf Israel hatte sich Netanjahu in einer
Ansprache an die Iraner gerichtet und gesagt, das Regime, das sie
unterdrücke, könne früher fallen, als sie sich das vorstellen könnten. Für
die Regimetreuen im Iran erscheint angesichts dessen die Anwesenheit von
Revolutionsführer Chamenei beim Freitagsgebet als Zeichen seiner
Furchtlosigkeit und als „Demütigung des Feindes“. Auf sozialen Netzwerken
spekulierten vorab manche, dass Israel das Gebetsgelände, den „Mossalla“ in
Teheran, direkt angreifen könnte.
## Viele haben das Vertrauen in eine friedliche Veränderung verloren
Während Regimeanhänger*innen die jüngsten iranischen Raketenangriffe
auf Israel in großen und kleinen Städten feiern und eine weitere Eskalation
fordern, hat die Realität der Bedrohung die gesamte iranische Gesellschaft
erfasst. Die sozialen Netzwerke spiegeln zunehmend Sorgen vor einem
verheerenden Krieg wider. Diese Angst ist allgegenwärtig und steht im
Kontrast zu den offiziellen Staatsmedien, die den Konflikt und die
angebliche Unbesiegbarkeit des Iran verherrlichen. In einer Umgebung, in
der kritische Stimmen zum Thema Israel systematisch verfolgt werden, bleibt
nur wenig Raum für öffentliche Debatten über die Gefahren eines Krieges.
Doch in privaten Gesprächen und auf den sozialen Plattformen zeigt sich ein
anderes Bild. Farid*, ein 27-jähriger Ingenieurstudent aus Teheran, äußert
seine Bedenken: „Auf der einen Seite haben wir die regierungstreuen
Hardliner, die so verblendet sind, dass sie glauben, im Krieg gegen Israel
und seine westlichen Verbündeten eine Chance zu haben. Auf der anderen
Seite gibt es einige Regimegegner*innen, die meinen, dass das Regime um
jeden Preis gestürzt werden muss – selbst auf Kosten eines Krieges, der das
Land zerstören und ungezählte Leben kosten könnte. Was fehlt, ist eine
Antikriegsbewegung, die aber gleichzeitig regimekritisch ist.“
Sepideh*, eine 35-jährige Englischlehrerin, sieht die Dinge anders: „Krieg
ist verheerend und fordert unschuldige Menschenleben. Aber es scheint, als
könnten wir Iraner*innen dem Regime alleine nicht mehr entgegentreten.
Wenn ein israelischer Angriff das Ende dieser Herrschaft bedeuten würde,
wäre es das vielleicht wert.“
Viele Menschen hätten angesichts von Armut, Korruption und der repressiven
Herrschaft der Mullahs das Vertrauen in eine friedliche Veränderung
verloren, sagt Fariba*, eine Journalistin und Politikwissenschaftlerin. Sie
fügt hinzu: „Es ist tragisch, aber einige Menschen sind so verzweifelt,
dass sie sagen: Wenn der Preis für die Freiheit der Krieg ist, dann sind
wir bereit, ihn zu zahlen.“ Diese Haltung mag naiv erscheinen, doch sie ist
ein Teil der Realität im Iran von heute.
Dennoch bleibe die Macht über das Schicksal des Landes fest in den Händen
von Ayatollah Khamenei und den Revolutionsgarden, sagt Fariba. Während die
Opposition und die Bevölkerung über die Zukunft des Landes streiten, liege
die Entscheidung über eine Eskalation des Konflikts letztlich bei den
Führern des Regimes. Für Khamenei zählen weder die Sorgen der Opposition
noch die Ängste der einfachen Menschen – entscheidend sind allein die
strategischen Interessen der Revolutionsgarden und ihrer fanatischen
Anhänger.
*Die Namen der iranischen Gesprächspartnerinnen wurden von der Redaktion
geändert.
4 Oct 2024
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## AUTOREN
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Lisa Schneider
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