# taz.de -- Österreichische Migrationsexpertin: „Schlepperrouten verlagern s… | |
> Zurückweisungen direkt an der deutschen Grenze seien kaum umsetzbar, sagt | |
> Migrationsforscherin Kohlenberger. Sie plädiert für europäische Lösungen. | |
Bild: Für viele Geflüchtete in Brandenburg/Berlin die erste Station: die Erst… | |
taz: Frau Kohlenberger, [1][die deutsche Bundesregierung will | |
Migrant:innen direkt von der Grenze zurückweisen.] Ist das überhaupt | |
umsetzbar? | |
Judith Kohlenberger: Die Binnengrenzen stehen ja nicht sperrangelweit | |
offen. Seit 2023 etwa gibt es Kontrollen an den deutschen Grenzen zu Polen | |
und zu Tschechien, die dürfen laut EU-Recht aber nicht dauerhaft sein. Vor | |
diesem Hintergrund ist der Vorstoß keine radikale Kehrtwende. Abgesehen von | |
der fehlenden Rechtmäßigkeit wäre das ein Kraftakt mit überschaubarem | |
Effekt: Wir wissen aus der Migrationsforschung, dass sich Schlepperrouten | |
schnell verlagern, meist auf gefährlichere Wege. 3.900 Kilometer Grenze zu | |
kontrollieren ist kaum möglich. | |
taz: Österreichs Innenminister Gerald Karner hat angekündigt, | |
zurückgewiesene Personen nicht aufzunehmen. | |
Kohlenberger: Solche [2][Alleingänge, wie ihn Deutschland angekündigt hat], | |
konterkarieren alle europäischen Anstrengungen. Erst kürzlich gab es die | |
EU-weite Einigung auf eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. | |
Deutschland hat zugestimmt, weicht nun auf nationaler Ebene ab. | |
taz: Was würde eine Umsetzung für Österreich bedeuten? | |
Kohlenberger: Zurückgewiesen würden vor allem Menschen, die bereits in | |
einem anderen EU-Land registriert wurden. Das ist in den seltensten Fällen | |
Österreich. Schlimmstenfalls könnte es zu einem Pingpongspiel kommen, also | |
einem Hin- und Herschieben, ähnlich wie an der polnisch-belarussischen | |
Grenze. | |
taz: Könnte es einen Dominoeffekt geben, wenn Österreich Migrant:innen | |
nach Ungarn oder Tschechien weiterreicht? | |
Kohlenberger: So manche Rechtsaußenpartei spekuliert wohl darauf. Dabei | |
sind Kettenabschiebungen verboten. Früher oder später landet man an einer | |
Außengrenze. Wenn dort keine Asylanträge mehr entgegengenommen werden, käme | |
das einer Abschaffung [3][des Asylrechts] gleich. | |
taz: Kritik kam auch von Polens Premier Tusk. Er sprach vom „faktischen | |
Aussetzen des Schengen-Abkommens“. | |
Kohlenberger: Tusk als bekennender Europäer muss natürlich auf Schengen | |
beharren. Aber es spielt auch eine Rolle, dass die meisten Zurückweisungen | |
aus Deutschland im Vorjahr nach Polen und Tschechien stattfanden. Tusk | |
weiß, dass die polnische Bevölkerung im Europavergleich sehr | |
migrationsskeptisch ist. | |
taz: Die Ampelkoalition ist wieder zurückgerudert. | |
Kohlenberger: Dass so ein Vorschlag als ernsthafte Maßnahme ventiliert | |
wird, zeigt, mit welchen diskursiven Verschiebungen wir es zu tun haben. | |
Die Ampel hat sich treiben lassen, vom Wahlerfolg der AfD, aber auch von | |
der CDU. | |
taz: Ungarns Premier Orbán hat angekündigt, Migrant:innen in Bussen nach | |
Brüssel karren zu wollen. Reine Provokation? | |
Kohlenberger: Das ist direkt aus dem Playbook der neuen Rechten in den USA, | |
zu denen Orbán beste Beziehungen pflegt. Er zeigt: Wir nehmen niemanden | |
auf. Und: Sollen sich doch die liberalen Eliten in Brüssel darum kümmern. | |
Sein Motiv ist das jüngste EuGH-Urteil gegen Ungarn vom Juni. Wegen | |
fehlender Umsetzung der EU-Asylregeln muss Ungarn mehr als 200 Millionen | |
Euro Strafe zahlen. | |
taz: In Österreich finden am 29. September Nationalratswahlen statt. | |
Migration ist ein Hauptthema im Wahlkampf. | |
Kohlenberger: Wir sind es gewohnt, dass die österreichische | |
Migrationsdebatte der deutschen im negativen Sinne voraus ist. Mittlerweile | |
muss die FPÖ gar nicht mehr „Daham statt Islam“ plakatieren, weil diese | |
Message bereits in der Mitte verfangen ist. Vielen Probleme werden negiert. | |
Für die Überlastung der Schulen etwa werden syrische Flüchtlingskinder | |
verantwortlich gemacht. Als ob es nicht seit Jahren einen Lehrermangel | |
gäbe. | |
taz: Kommt es zu einer verschärften Migrationspolitik? | |
Kohlenberger: Ja, sowohl auf nationaler wie auf europäischer Ebene. Das | |
liegt auch daran, dass man Probleme wie Extremismus nicht angeht. | |
Lösungsvorschläge, die über die „Einwanderungsfrage“ hinausgehen, liegen | |
seit Langem auf dem Tisch. Stattdessen werden Probleme instrumentalisiert, | |
um Asylrechte zu beschneiden. | |
12 Sep 2024 | |
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## AUTOREN | |
Florian Bayer | |
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