# taz.de -- Anti-Schwarzer Rassismus: Umgebracht, einfach so | |
> Der Kameruner William Chedjou wird in Gesundbrunnen erstochen und stirbt. | |
> Die afrikanische Diaspora gedenkt ihres Freundes und fordert Aufklärung. | |
Bild: Das Kollektiv erinnert am Tatort mit Blumen und Fotos an William Chedjou | |
Berlin taz | Cyrille Tasah Fotio spricht leise, fast schon behutsam, als | |
würde eine zu laute Stimme seine Erinnerungen übertönen. Er sitzt in einem | |
karg eingerichteten Zimmer in einer Neubauwohnung in Pankow, durch die | |
weißen Gardinen fällt milchiges Licht. Fotio erinnert sich an seinen Freund | |
William – einen echten Freund, wie er mehrmals betont, und der jetzt | |
einfach tot ist. | |
Am Nachmittag des 11. Juli stach ein fremder Mann William Chedjou mit einem | |
Messer in den Bauch. Mitten am Tag, auf offener Straße am Gesundbrunnen im | |
Wedding. Chedjou starb kurz darauf an seinen Verletzungen. Die | |
Polizeimeldung vom 12. Juli spricht von einem „Tötungsdelikt“ und davon, | |
dass der „Hintergrund der Auseinandersetzung offenbar ein Streit um eine | |
Parklücke war“. | |
[1][Was sie nicht erwähnt: Chedjou war Schwarz und stammte aus Kamerun]. | |
Der mutmaßliche Täter ist ein Deutscher mit türkischem | |
Migrationshintergrund. Und der „Streit“ war eher eine plötzliche | |
Eskalation. So erzählt es zumindest Cyrille Tasah Fotio, Augenzeuge und | |
Mitbetroffener des Angriffs. Er und viele andere Kameruner*innen in | |
Berlin sind sich einig: William Chedjou starb wegen Anti-Schwarzem | |
Rassismus. Sie sehen die Tat als einen Angriff auf die afrikanische und | |
Schwarze Community. | |
Wer war William Chedjou? Fotio ist 20 Jahre alt, Chedjou 30, als sie sich | |
2017 in Wunstorf begegnen, einer kleinen Stadt in Niedersachsen. Chedjou | |
lebt zu dem Zeitpunkt in einer Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete. | |
Fotio wohnt schon nicht mehr dort, er wurde bereits nach Brandenburg an der | |
Havel umverteilt. Doch er besucht seine alten Bekannten in Wunstorf, die | |
ihn mit Chedjou bekannt machen. Bald muss Chedjous Freundin, eine | |
Geflüchtete aus Kenia, ebenfalls nach Brandenburg an der Havel umziehen. | |
Wenn Chedjou sie dort besucht, darf er nicht bei ihr im Heim übernachten | |
und schläft deshalb bei Fotio. „Dadurch haben wir uns dann so richtig | |
angefreundet“, erinnert er sich. | |
## Die Polizeimeldung spricht von einem Tötungsdelikt | |
Fotio und Chedjou unterstützen sich gegenseitig, wenn das Asylsystem mal | |
wieder Probleme macht. „Im Asylverfahren musst du als Afrikaner den vier- | |
oder fünffachen Aufwand betreiben für einen Aufenthaltstitel. Wir haben | |
viel über dieses kafkaeske System geredet.“ Chedjou hält durch, heiratet, | |
zieht nach Berlin, bekommt zwei Kinder – und erhält Ende vergangenen Jahres | |
einen Aufenthaltstitel. Das bedeutet: endlich Arbeitserlaubnis, endlich | |
eine Bleibeperspektive, endlich keine Angst mehr vor Abschiebung. Und | |
endlich wieder Reisen. | |
Am Tag der Ermordung kommt Fotio gerade von einer Autowerkstatt in | |
Gesundbrunnen, als er dort zufällig Chedjou trifft. Der hat eben ein neues | |
Auto gekauft, Fotio hatte ihm zuvor bei der Suche geholfen, deshalb wollen | |
sie sich die Anschaffung zusammen anschauen. Sie gehen die Böttgerstraße | |
entlang, und als sie sich Chedjous Auto nähern, fordert ein Mann sie auf, | |
den Parkplatz frei zu machen. „Er hatte auf der anderen Straßenseite in | |
zweiter Reihe geparkt“, erinnert sich Fotio. Sie ignorieren den Mann, der | |
ruft jedoch immer lauter. „Ich habe dann zu William gesagt: ‚Schauen wir | |
uns das Auto lieber ein anderes Mal an‘.“ | |
Sie wollen gerade umdrehen, da hält ein anderes Auto an. „Der Fahrer wollte | |
wissen, was los ist, und ich habe gesagt: Nichts.“ Doch die zwei Männer | |
steigen aus und kommen gemeinsam mit dem ersten Mann auf Fotio und Chedjou | |
zu. Einer der Männer sei aggressiv gewesen, habe sie bedroht, wütend | |
geschnauft und Fotio ins Gesicht geschlagen. „Ich habe mich gefragt, was | |
ist denn los mit dem Mann?“ Fotio läuft ein paar Meter weg, dreht sich | |
wieder um und sieht niemanden mehr. „Dann habe ich die Schreie gehört: ‚Er | |
liegt am Boden, er liegt am Boden!‘“ | |
Fast eine halbe Stunde lang presst Fotio ein T-Shirt auf Chedjous | |
Stichwunde am Bauch, bis Polizei und Krankenwagen eintreffen. Andere | |
Zeug*innen hindern den mutmaßlichen Täter und seinen Begleiter am | |
Weiterfahren. Zwei unterschiedliche Handyvideos, die von Passant*innen | |
stammen und später im Netz die Runde machen, zeigen Chedjou in einer | |
Blutlache, Fotio über ihn gebeugt. Man sieht einen roten Lieferwagen, der | |
sich quer über die Straße stellt, und die Festnahme des mutmaßlichen | |
Täters. Ob vor der Tat alles genau so geschehen ist, wie Fotio es erzählt, | |
lässt sich kaum nachprüfen – ganz abgesehen davon, dass seine Erinnerungen | |
durch Schock und Traumatisierung geprägt sind. Die Berliner | |
Staatsanwaltschaft, die nun wegen Mordes ermittelt, kann wegen laufender | |
Ermittlungen nichts zum Tatverlauf sagen. | |
## Es sind rassistische Dimension vorhanden | |
Fotio ist es wichtig zu betonen, dass Chedjou und er ruhig blieben und sich | |
nicht provozieren ließen. Doch selbst wenn sich Chedjou auf einen Streit | |
eingelassen haben sollte, ändert das nichts an der Unverhältnismäßigkeit | |
der Tat. [2][Genau hierin sieht Tahir Della die rassistische Dimension.] | |
Della arbeitet für die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD) | |
und beobachtet seit einiger Zeit, dass körperliche Angriffe auf Schwarze | |
zunehmen. | |
„Was motiviert Menschen, so gewalttätig aufzutreten, wenn es um so etwas | |
Geringfügiges geht wie einen Parkplatz?“, fragt er und gibt selbst die | |
Antwort: [3][Die Hemmschwelle, Schwarzen Menschen und Menschen | |
afrikanischer Herkunft Gewalt anzutun], sinke immer weiter. Anschläge auf | |
Geflüchtetenunterkünfte, spontane Attacken auf offener Straße, | |
Polizeigewalt – „es wird immer von Einzelfällen gesprochen, doch dadurch | |
wird nicht deutlich, dass es offensichtlich ein systemisches Problem in | |
Deutschland gibt.“ | |
Della hält es für zweitrangig, was genau im Kopf des Täters vor sich ging. | |
„Wir brauchen ein breites Verständnis von Anti-Schwarzem Rassismus“, sagt | |
er. „Man muss kein Nazi oder bekennender Rassist sein, es reichen die | |
Bilder im Kopf und die Haltungen, die wir von Kindesbeinen an vermittelt | |
bekommen und die dazu führen, dass Menschen glauben, mit Schwarzen Menschen | |
alles Mögliche machen zu können ohne Konsequenzen.“ Eines dieser | |
rassistischen Bilder stellt insbesondere Schwarze und geflüchtete Männer | |
als eine Bedrohung dar. „Diese Erzählung wird von der Gesamtgesellschaft | |
mitgetragen und rechtfertigt Gewalt gegen junge Schwarze Männer, weil sie | |
sozusagen als Gefahr für die Gesellschaft gelten“, sagt Della. | |
## Verständnis von Anti-Schwarzem Rassismus benötigt | |
Auch der Kameruner Geraud Podago von der Gruppe „Collective William | |
Chedjou“ hält die Tat für klar rassistisch – und erwartet von dem | |
Strafprozess eine politische Einordnung. „Das wird vor Gericht sicherlich | |
eine Rolle spielen und das Urteil wird alle Afrikaner in Deutschland | |
betreffen.“ Um eine antirassistische Perspektive im Verfahren einzubringen, | |
sucht das Kollektiv nach engagierten afrodeutschen Anwält*innen, die | |
Chedjous Witwe als Nebenklägerin vertreten. Wann der Prozess beginnt, steht | |
laut Staatsanwaltschaft noch nicht fest. Sofern nach Abschluss der | |
Ermittlungen Anklage erhoben wird, sollte die Hauptverhandlung aber | |
spätestens Mitte Januar nächstes Jahr beginnen. Der mutmaßliche Täter sitzt | |
zurzeit in Untersuchungshaft. | |
Das Kollektiv kämpft für Gerechtigkeit, auch außerhalb des Gerichtssaals. | |
Es fordert die Umbenennung der Böttgerstraße in William-Chedjou-Straße und | |
möchte den Parkplatz, wo Chedjou starb, zu einem Gedenkort umgestalten. „Es | |
soll eine Erinnerung an William sein und eine Mahnung, denn wir dürfen nie | |
vergessen, was passiert ist“, sagt Geraud. Eine Straßenumbenennung hält die | |
Bezirksbürgermeisterin von Mitte, Stefanie Remlinger, für unwahrscheinlich. | |
Dafür benötige es stichhaltige Gründe, warum der aktuelle Name nicht mehr | |
tragbar sei. Für eine Gedenktafel, an einer Hauswand oder in den Boden | |
eingelassen, sei Remlinger aber „sehr offen“. „Der Vorfall ragt sehr stark | |
heraus. Dass so ein lächerlicher Anlass in Kombination mit Rassismus | |
reicht, das hat mich total schockiert“, sagt die Grünen-Politikerin zur | |
taz. | |
Zehn Tage nach der Tat nehmen zwischen 3.000 bis 4.000 Menschen an einer | |
Demonstration teil, um für Gerechtigkeit für William Chejdou und gegen | |
Anti-Schwarzen Rassismus zu protestieren. „Ich gehe oft auf Demos, aber zum | |
ersten Mal haben wir etwas wirklich Unglaubliches erlebt“, erzählt der | |
Kameruner Hilaire Djoko. Er gehört ebenfalls zum „Collective William | |
Chedjou“ und wohnt selbst mit seiner Familie in Wedding. „Es waren so viele | |
Leute da, die davor noch nie auf einer Demo waren, so viele Afrikaner.“ | |
Für ihn ist der Fall klar rassistisch: „Als Schwarzer bist du von Rassismus | |
betroffen. Wir müssen auch traurigerweise feststellen, dass sich keine | |
deutsch-türkischen antirassistischen Organisationen öffentlich zum Tod von | |
William geäußert haben.“ Djoko hofft, dass die afrikanischen Communitys | |
enger zusammenarbeiten und sich ihrer Handlungsmacht bewusst werden. „Wir | |
haben diese Demo mit unseren Mitteln finanziert, unabhängig vom Staat und | |
von Vereinen.“ | |
Fotio fühlt sich hingegen allein. Nachts plagen ihn Alpträume, den Wedding | |
meidet er, obwohl er dort viele Freund*innen hat. Natürlich seien | |
Kameruner*innen auf ihn zugekommen, um ihn zu unterstützen. „Aber ich | |
fühle mich nicht mehr sicher, selbst in meiner eigenen Community nicht | |
mehr.“ Zu sehr hätten ihn die vielen Kommentare unter den Handyvideos | |
verletzt, wo Unbeteiligte in den sozialen Medien sein Verhalten bewerteten. | |
„Da hieß es, ich hätte stärker auf die Wunde pressen müssen, ich hätte m… | |
ausziehen und meine Kleidung auflegen müssen. Aber ich habe alles gemacht, | |
was ich konnte.“ Die Videos hat er mittlerweile von seinem Handy gelöscht. | |
Doch die Bilder im Kopf bleiben. | |
15 Sep 2024 | |
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## AUTOREN | |
Nora Noll | |
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