# taz.de -- Neuauflage eines Kochbuchklassikers: Arm, aber avantgarde | |
> Vor über 50 Jahren schrieb Huguette Couffignal über „Die Küche der | |
> Armen“. Nun ist das Buch wieder erhältlich. Verlegerin Barbara Kalender | |
> lädt ein. | |
Bild: Die Verlegerin Barbara Kalender in ihrer Küche | |
Am Kühlschrank in Barbara Kalenders Küche hängt das Menü, das sie heute | |
Abend kochen möchte. Sie hat sich was vorgenommen: Für die Vorspeise sind | |
aragonisches Migas mit Chorizo, Tzatziki, marinierte Auberginen und | |
serbischer Maisbrei mit Schafskäse vorgesehen. Als Hauptgerichte hat die | |
Verlegerin „Mauren und Christen“ aus Kuba und arabisches Kibbeh ausgewählt. | |
Zum Dessert soll es Melonen nach koreanischer Art und israelisches Nahit | |
geben. Man darf Barbara Kalenders Vorhaben sportlich nennen. Zwar hat sie | |
einiges vorgekocht, trotzdem muss der Reporter hin und wieder assistierend | |
einspringen und etwa Speck und [1][Chorizo] schneiden, während Kalender mit | |
Töpfen und Pfannen jongliert. | |
Alle Rezepte der Gerichte, die heute Abend gegessen werden sollen, stammen | |
aus Huguette Couffignals Kochbuchklassiker „Die Küche der Armen“, den | |
Kalenders März Verlag vor kurzem wiederveröffentlicht hat. Weil Barbara | |
Kalender sich als Herausgeberin der Neuauflage ausführlich mit diesem | |
besonderen Kochbuch befasst hat, hat sie zum Kochen und Essen eingeladen. | |
Die Französin Couffignal, über die kaum etwas bekannt und von der nicht | |
einmal eine Fotografie überliefert ist, bereiste in den 1960er Jahren die | |
Welt und ließ sich, wo immer sie gerade war, Rezepte diktieren. Ihr im Jahr | |
1970 auf Französisch erschienenes Buch umfasst 300 Rezepte aus aller Welt. | |
Die so archivierten Gerichte basieren in der Regel auf Lebensmitteln, die | |
sich auch Arme leisten und mit ihren begrenzten Mitteln zubereiten können, | |
um ihren Familien eine möglichst nahrhafte Mahlzeit zu bieten. „Überall auf | |
der Welt hat die Armut ein anderes Gesicht“, schreibt Couffignal. „Ein | |
ziemlich großer Teil der Menschheit lebt im Elend, jedoch auf sehr | |
verschiedene Weise.“ | |
## Statt Milch, Eier und Rindfleisch, mehr Tofu oder Bulgur | |
So unterschiedlich die Lebensbedingungen sind, so vielfältig die benutzten | |
Lebensmittel. Couffignal besuchte die Inuit und die Tataren, sie war auf | |
allen Kontinenten unterwegs – abgesehen von Australien. | |
März-Verleger Jörg Schröder, der vor vier Jahren starb, hatte das | |
französische Original des Buchs in den frühen 1970er Jahren in einem | |
Pariser Antiquariat entdeckt. Er war davon begeistert, ließ es übersetzen | |
und publizierte die deutsche Fassung im Jahr 1978. | |
Dass Milch, Eier und Rindfleisch schon deswegen Luxusprodukte sind, weil | |
sie nur einen Bruchteil der bei ihrer Produktion verbrauchten Energie | |
wieder einbringen, und daher der Konsum von Pflanzen zu bevorzugen ist, | |
betonte Huguette Couffignal bereits vor 50 Jahren. Das dürfte inzwischen | |
Allgemeinwissen sein. Viele Bestandteile der von Couffignal gesammelten | |
Rezepte waren in Europa damals aber kaum erhältlich, etwa Tofu oder Bulgur. | |
Das hat sich dank Globalisierung inzwischen geändert. | |
## Kochen mit Insekten | |
Damals war das Buch nur mäßig erfolgreich, erzählt Barbara Kalender, | |
während sie eine eiserne Pfanne auf dem Herd platziert. Denn auch in linken | |
Kreisen in Westdeutschland, dem Kernpublikum des März Verlags, wurde noch | |
gern und häufig Fleisch konsumiert. Fleischgerichte gibt es zwar auch in | |
der „Küche der Armen“, aber größtenteils basieren die Rezepte auf | |
pflanzlichen Bestandteilen, ein eigenes Kapitel widmet sich [2][den | |
Insekten]. „Wenn es um die Versorgung mit Eiweiß geht, dann werden von den | |
Armen überall auf der Welt bevorzugt Insekten gekocht“, sagt Barbara | |
Kalender, während Speck und Chorizo in der Pfanne brutzeln. Wir essen heute | |
keine Insekten, sondern Lammfleisch: „Für das Kibbeh verwende ich 320 Gramm | |
für vier Personen.“ Die Fleischmenge unseres Menüs ist demnach | |
überschaubar. | |
„Die Küche der Armen“ wurde ergänzt durch ein Vorwort von Christiane | |
Meister und fast 150 Fußnoten von Herausgeberin Kalender. Letztere wurden | |
unter anderem notwendig, weil es trotz des schwer abzuschüttelnden Gefühls | |
einer Zunahme von Katastrophen auch Fortschritt gibt. Lag etwa die mittlere | |
Lebenserwartung der Menschen in China damals noch bei 34 Jahren, wie | |
Huguette Couffignal schrieb, werden sie nun älter als die meisten anderen | |
Bewohner*innen unseres Planeten: Im Mittel erreichen sie das 83. | |
Lebensjahr, wie Barbara Kalender in der ersten Fußnote festhält. Starben in | |
Indien 25 Prozent der Kinder im ersten Lebensjahr und 40 Prozent von ihnen, | |
bevor sie fünf Jahre alt geworden waren, ist die Kindersterblichkeit dort | |
heute auf 3,12 Prozent gesunken. | |
Wer sich mit der Küche der Armen auseinandersetzt, muss sich mit ihren | |
Lebensbedingungen beschäftigen. Und wer Rezepte aus der „Küche der Armen“ | |
zubereiten möchte, sollte etwas Kocherfahrung besitzen. Kalender kocht gern | |
und oft, und das ist für das Gelingen dieses Menüs essenziell. Denn zum | |
einen muss Kalender mehrere Gerichte gleichzeitig im Griff haben, was sie | |
keine Mühe zu kosten scheint. Zum anderen sind die Rezepte des Buchs teils | |
sehr knapp formuliert. Sie verzichten häufig auf Mengenangaben und | |
ausführliche Zubereitungshinweise. Die 320 Gramm, die Kalender fürs Kibbeh | |
eingekauft hat, stehen beispielsweise nicht im Rezept, allerdings finden | |
sich relativ detaillierte Angaben darüber, wie die Bestandteile des | |
Gerichts zu verarbeiten sind. Gebraucht werden: sehr fein gehacktes | |
Schaffleisch, zu gleichen Teilen Bulgur, fein gehackte Zwiebeln, | |
Pinienkerne oder geraspelte Mandeln, Salz und Pfeffer, Oregano, | |
Kreuzkümmel, Paprikapulver, Zimt, Nelkenpulver. | |
## Die Stimmen der Köchinnen | |
Während sie durch die Küche wirbelt, erzählt Kalender: „Die Rezepte | |
erinnern mich an die Anweisungen meiner Mutter, von der ich Kochen gelernt | |
habe: ‚Da nimmst du halt …‘ “. Aus den in der „Küche der Armen“ ge… | |
Rezepten hört Kalender die Stimmen der Köchinnen heraus. „Jede Erzählerin | |
wird so wiedergegeben, wie sie spricht.“ | |
Die Zubereitung des Kibbeh etwa wurde von Couffignal so beschrieben: „Das | |
Schaffleisch mit Salz im Mörser zerstampfen, ihm eine Zwiebel zugeben, die | |
man klein geschnitten oder vor dem Schaffleisch im Mörser zerrieben hat. | |
Mischen und würzen. Den gewaschenen und an der Luft getrockneten Bulgur | |
daruntermischen und noch einmal sehr fein zerdrücken. Zwiebel und | |
Pinienkerne in Fett anbraten. Auf einem großen gefetteten Blech die Hälfte | |
der Fleischmenge ausbreiten, mit Zwiebeln garnieren und mit dem Rest der | |
Fleischmenge bedecken. Gut festdrücken und in rautenförmige oder anders | |
geformte Stücke schneiden, mit geschmolzenem Fett begießen und in den Ofen | |
bringen.“ | |
Im Vergleich dazu mutet das Rezept für „Mauren und Christen“ – Reis und | |
schwarze Bohnen – eher minimalistisch an. Die gehackten Zwiebeln sollen | |
angebraten, Reis und bereits angekochte Bohnen dazu gegeben werden, ebenso | |
Schinkenstücke, Peperoni, Kreuzkümmel, Oregano, Lorbeerblätter, Salz und | |
Pfeffer, Knoblauch und am Ende gestampfte frische Tomaten. „Wenn nötig noch | |
etwas Wasser dazu geben. So lange kochen, bis auf dem Boden noch etwas Saft | |
steht“, heißt es am Ende. Moment, wieso „wenn nötig“, fragt sich der | |
Amateurkoch beim Lesen. Muss der Reis ebenfalls vorher gekocht werden? | |
Kalender antwortet: „Nein. Wie bei einem Risotto gebe ich anfangs wenig | |
Wasser dazu und gieße immer wieder ein bisschen nach.“ Sie verwende auch | |
keine schwarzen Bohnen, sondern rote aus der Dose, die sie in ihrer Kammer | |
vorrätig hat. Letzteres habe auch den Vorteil, dass nicht so sehr darauf | |
geachtet werden muss, dass der Reis nicht vor den Bohnen fertig ist – oder | |
umgekehrt. | |
## Resteverwertung beim Kochen | |
„Jetzt machen wir das aragonische Migas“, sagt Kalender. „Da weiß ich | |
nicht, wie das geht.“ Das Rezept ist aber auch nicht sehr kompliziert. | |
Zugrunde liegt ihm altes Weißbrot, und Kalender erklärt dazu, dass Kochen | |
für Leute mit wenig Geld oder jene, denen es widerstrebt, Lebensmittel | |
wegzuwerfen, immer auch Resteverwertung bedeute. Weswegen sie kein altes | |
Weißbrot, sondern Mehrkornbrot verwendet, das sie im Haus hat. | |
Couffignal hat zwischen den Rezepten einige ausführlichere Texte über | |
Grundnahrungsmittel eingefügt. So ist etwa zu erfahren, wie [3][Reis in | |
verschiedenen regionalen Küchen] zubereitet wird. An anderer Stelle findet | |
sich ein Exkurs über den Brotfruchtbaum, der in den Tropen wächst und | |
dessen Früchte und Samen gegessen werden können. Dazwischen streut | |
Couffignal hin und wieder Informationen über wenig bekannte Aspekte | |
menschlicher Nahrungsgewohnheiten ein, etwa diese: Es gibt ungefähr 250.000 | |
Pflanzenarten auf dem Planeten, wovon 30.000 essbar sind. Gegessen werden | |
im Großen und Ganzen aber nur 150. | |
Während Kalender kocht, wird sie hin und wieder von der Fotografin in der | |
Küche aufgesucht. Schließlich setzen wir uns an den Tisch. Es wird | |
ausgiebig über die einzelnen Gerichte gesprochen und Wein getrunken. Am | |
Ende stehen drei Favoriten fest, auf die sich alle einigen können: Kibbeh | |
kam sehr gut an; Polenta und Käse, also der serbische Maisbrei, fanden in | |
der Runde Zuspruch. Auch „Mauren und Christen“ hat in der Kalenderschen | |
Fassung allen gemundet. Das Mehrkornbrot verlieh dem Gericht einen | |
mitteleuropäischen Biss. | |
13 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
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