| # taz.de -- Die Wahrheit: Au Backe, lass nach, au, au! | |
| > Alles hätte so schön sein können früher – alles außer dem fiesen | |
| > Ohrenarzt. Und heute? Angst all überall und Aua, viel Aua. | |
| Bild: Ob Meerschweinchen oder Hamsterbacke: Es regiert Doc Angst | |
| Seit ein paar Jahren schwillt mir alle paar Monate innerhalb weniger | |
| Stunden zwischen Ohr und Hals extrem die Backe an. Im Spiegel sehe ich dann | |
| jedes Mal aus wie ein Feldhamster, der sich für den Winterschlaf preppt, | |
| und das Kauen ist eine Tortur. Es geht praktisch nicht. So hatte ich einmal | |
| gerade fett für mich gekocht und totalen Hunger. Ich saß vor meinem Teller, | |
| und plärrte wütend und frustriert in meiner Wohnung rum wie so ein Kranker, | |
| der ich ja irgendwo auch war. | |
| Als das Phänomen zum ersten Mal auftrat, schob ich noch mords die Panik, | |
| und recherchierte online nach dem Symptom. Wie bei Dr. Google üblich hatte | |
| ich ziemlich sicher Krebs, mit Metastasen und allem Klimbim, drei Saucen | |
| und Salat komplett. Oben auf der Seite mit den Ergebnissen erschienen | |
| Anzeigen von Wangenampu-tateuren und Bestattungsinstituten. Darunter stieß | |
| ich bei „netquacksalber.de“ jedoch als mögliche Ursache auf Steine, die die | |
| Ohrspeicheldrüse verstopfen und dadurch die Schwellung verursachen können. | |
| Dabei hatte ich doch gar keine Steine gegessen, aber in der Not griff ich | |
| wie ein Ertrinkender nach dem dürren Strohhalm der Netzdiagnostik, die | |
| sogar einen Therapievorschlag bereithielt: Um den Speichelfluss anzuregen, | |
| der den Stein daraufhin aus dem Gang schwemmt, muss man einfach nur den | |
| ganzen Tag Zitronenbonbons lutschen. | |
| Und in der Tat: Nach ein paar Stunden ist die Hamsterbacke wirklich bereits | |
| deutlich kleiner. Aber weil sich die Anfälle in letzter Zeit häufen, lasse | |
| ich jetzt doch lieber mal nachschauen. Eben wegen dem Krebs – die ersten | |
| tausend Autovervollständigungen bei der Googlesuche können nicht irren. | |
| ## Mitarbeiter, die Patienten verabscheuen | |
| Der Empfangstresen bei der zufällig auf Doctolib gecasteten HNO-Ärztin | |
| bietet schon mal einen Vorgeschmack. Die Mitarbeiterin dort verabscheut | |
| Patienten augenscheinlich über alle Maßen, und presst jede Silbe mit der | |
| ultimativen Feindseligkeit eines in die Enge getriebenen Wiesels heraus. | |
| Ein Wunder, dass ich hier nicht meine Schnürsenkel abgeben muss. Seit | |
| meiner Kindheit war ich nicht mehr beim HNO-Arzt gewesen, und sofort weiß | |
| ich auch wieder, warum. | |
| Und zwar nicht wegen der Sprechstundenhilfe, sondern wegen der | |
| Erstversorgung meiner damals ebenfalls häufiger aufgetretenen | |
| Mittelohrenentzündungen. Offenbar gab es zu jener Zeit noch keine | |
| Medikamente, nur Garten-, Kriegs-, oder Haushaltswerkzeuge, wenig Know-how, | |
| und keinerlei besondere Empathie für kindliche Patienten. Nach heutigen | |
| Maßstäben war es wie im Notlazarett. In meiner Erinnerung hielten mich | |
| mehrere Erwachsene fest, und der Schlimmste, eine Art Satan im weißen | |
| Kittel, rammte mir eine grobe Stricknadel oder so volle Pulle in das | |
| entzündete Trommelfell, sodass der Eiter in heißen Fontänen gegen die | |
| ohnehin schon gelben Wände des Behandlungszimmers spritzte. | |
| Ich schrie, bis mir mit dem „Twäng!“ gefatzter Gitarrenseiten die | |
| Stimmbänder rissen. Danach fiel ich in eine Ohnmacht, aus der mich erst ein | |
| Eimer kaltes Wasser und mehrere Backpfeifen weckten. Im Nachhinein denke | |
| ich, dass alles nur geschah, um mir so wehzutun wie irgend möglich, was | |
| ihnen auf jeden Fall gelang. Wenngleich ich überbordende Gewalt ja schon | |
| zur Genüge von Zahnärzten, Sportlehrern, Hunden und Bademeistern kannte, | |
| wusste ich, dass ich die zwölfte Dimension gesehen hatte: den roten | |
| Schmerz. Dann machte ich erneut alles falsch: Ich weinte. | |
| Das war ein Riesenfehler. Sogenannte „Anstellerei“ im Sinne der Anklage. | |
| Als Anstellerei galt früher praktisch alles: ein nervöses Augenzucken am | |
| Marterpfahl; ein verzärteltes Prusten, nur weil man im Winter auf dem | |
| zugefrorenen See ins Eis einbrach; ein memmenhaftes Stöhnen, wenn die | |
| Kunststoffklamotten mal wieder lichterloh in Flammen standen. | |
| Man wies mich scharf zurecht, ich könne ja noch froh sein. Worüber weiß ich | |
| nicht; womöglich ja darüber, dass ich für mein würdeloses Verhalten nicht | |
| obendrein noch ein paar weitere Breitseiten gescheuert bekam, da ich das in | |
| meinem todesähnlichen Zustand kaum noch mitbekommen hätte. So wäre das ja | |
| überhaupt kein Sport mehr gewesen, und hätte entsprechend keinen Spaß | |
| gemacht. | |
| Jedenfalls habe ich seitdem vor Ohrenärzten nichts als nackte Angst. Im | |
| Grunde habe ich heute vor allem Angst. Vor der Wahrheit. Vor Tag und Nacht. | |
| Vor Nadeln. Vor Stühlen und weißen Kitteln. Vor Worten. Vor Geräuschen. Vor | |
| der Zeit. Vor dem Leben. Bewahrt habe ich mir auch den unstillbaren Hass | |
| auf sämtliche Erwachsenen, den Argwohn, die Enttäuschung, die Bitterkeit. | |
| Und da nun auch ich erwachsen bin, hasse ich mich selbst noch mehr als alle | |
| anderen. Wenigstens die alberne Heulerei habe ich mir komplett abgewöhnt, | |
| stattdessen stottere ich im Schlaf. | |
| ## Damals war eigentlich eine schöne Zeit | |
| Schade, dabei war das doch eigentlich eine großartige Zeit. Die Leute | |
| machten Kassettenaufnahmen von Radiomusiksendungen, im Winter gab es | |
| Schnee, und die BRD gewann 3:1 in Wembley mit einem überragenden Günter | |
| Netzer, der aus der Tiefe des Raumes kam. Regierungen kopierten noch keine | |
| Politik von Rechtsradikalen, sondern machten sie selbst. Alles hätte so | |
| schön sein können. | |
| Das sind so meine Gedanken, während ich darauf warte, ins Sprechzimmer | |
| gerufen zu werden, damit mir die Ärztin die Instrumente zeigt. Zum Glück | |
| dürften die Stricknadeln inzwischen viel feiner geworden sein. Oder sie | |
| geben uns Lachgas und Morphium, anstatt uns festzuhalten, wenn sie uns die | |
| Backen aufstechen, um die Steine mit einer Schnabelzange aus der | |
| Ohrspeicheldrüse zu pulen. | |
| Doch zunächst rufen sie bloß irgendwelche anderen Patienten auf, aber die | |
| hören oft nichts, deshalb sind sie schließlich hier. Das kann dann wohl | |
| noch dauern, aber für mich ist das okay. Einen lasse ich vor, der | |
| „irgendwie zur Arbeit“ muss. Ich habe wirklich keine Eile. | |
| 17 Sep 2024 | |
| ## AUTOREN | |
| Uli Hannemann | |
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