# taz.de -- Die Wahrheit: Open Plärr auf offener Bühne | |
> Wein, heul, flenn: Die gar nicht mehr enden wollenden Auftritte der | |
> Pop-Röhre Adele in München sind eine einzige große Jammersause im | |
> Tränental. | |
Bild: Adeles Schergen bauen vor der Show Dämme gegen den Tränenstrom | |
Als die britische Sängerin Adele beim ersten von zehn Münchener Konzerten | |
auf die Bühne der eigens dafür errichteten Arena tritt, sagt sie, dass ihr | |
der Atem stocke, so nervös sei sie. Und damit geht es eigentlich schon los: | |
das Jammern auf unverschämt hohem Niveau. | |
Denn es gibt nichts Leichteres als einen Auftritt vor großem Publikum. | |
Meine eigene Erfahrung als Bühnenkünstler besagt, dass die | |
Auftrittssituation viel schwieriger ist, wenn nur zehn Leute da sind, | |
keiner kichert, und in der ersten Reihe sitzt der notorische Typ mit | |
verschränkten Armen, den seine Freundin gegen seinen Willen mitgeschleppt | |
hat und der uns anderthalb Stunden lang nonstop todesmissmutig anstarrt. | |
Denn wenn hundert Menschen kommen, ist da immer mindestens eine gut gelaunt | |
gackernde Gestalt dabei, die die anderen ansteckt. Die ganze Veranstaltung | |
wirkt dann gleich wundersam dynamischer, obwohl das mit der absoluten | |
Qualität der Beiträge noch gar nicht mal so viel zu tun haben muss. Von den | |
74.000 Zuhörern bei Adele lacht garantiert mal eine, und von da an ist das | |
Eis gebrochen. Abgesehen davon, dass wir hinterher mit zehn Euro nach Hause | |
gehen und nicht mit zehn Millionen. | |
Und? Hört man von uns etwa Klagen? Oder brechen wir deshalb gar in Tränen | |
aus? Adele tut das offenbar die ganze Zeit über. „Adeles Stimme bricht. | |
Kurz schluchzt sie. Es ist der emotionale Höhepunkt des ersten von vier | |
Konzertwochenenden“, liest man im Konzertbericht des kostenlosen Schweizer | |
Pendlermagazins 20 Minuten. | |
## Geldspeicher zu klein | |
Allerdings erfährt man hier nicht, warum sie heult. Vielleicht denkt sie | |
gerade daran, dass ihr Geldspeicher nun bald zu klein wird und sie die Gage | |
in einen neuen investieren muss. Wenn das der emotionale Höhepunkt ist, | |
möchte man dem emotionalen Tiefpunkt nicht im Dunkeln begegnen. | |
„Dann bricht Adeles Stimme. Sie schluchzt“, heißt es nur wenige Absätze | |
weiter unten. Variationen in der Wortwahl sind bei einer Gratiszeitung zu | |
viel verlangt. „Schluchzen“ ist aber auch ein wahnsinnig schönes Wort. Wer | |
muss da nicht an eine Kröte denken, die von der ganzen Welt alleingelassen | |
in einem feuchten, dunklen Keller sitzt? Wo die Bedächtige weint, kann die | |
Fassungslose nur schluchzen. Schluchzen ist der ultimative Kontrollverlust | |
vor dem Sturz ins offene Grab; es ist wie Kotzen, aber mit den Augen. | |
Weinen ist Klassik, Schluchzen ist Punk. | |
Diesmal erfahren wir immerhin, warum sie schon wieder schluchzt wie eine | |
Millionärsunke. „Ihr wisst, ich bin oft depri – ihr kennt ja meine Musik. | |
Bitte helft mir bei diesem Song.“ Die aus buchstäblich aller Welt | |
angereisten Fans latzen einen Gegenwert von über hundert Dönern ab und | |
sollen ihr auch noch bei der Arbeit helfen? Mitsingen, schreiben, | |
komponieren, ist das Scheißding denn etwa noch nicht fertig? Stöpsel, | |
stotter, improvisier – reim dich oder ich fress dich. Und damit wagt sie | |
sich jetzt trotzdem auf die Bühne? | |
## Rücklagen für Krankheitsfall | |
Es tut mir ja leid, wenn sie Depressionen hat, aber dann wäre es, | |
insbesondere für eine Patientin, die über die notwendigen Rücklagen für | |
solche Fälle verfügt, allemal besser, sich vorübergehend aus dem | |
Erwerbsleben zurückzuziehen, um die Krankheit erst einmal behandeln zu | |
lassen. | |
Überhaupt scheint es für alle Beteiligten rundum eine rechte | |
Jaulveranstaltung zu sein, ein wahres Open Plärr. Ein Sack Zwiebeln wäre | |
sicher auch für weniger als die 400 Euro zu haben gewesen, die hier eine | |
Eintrittskarte kostet; den braucht man dann bloß noch zu schälen und zu | |
schneiden. Dabei kann man ja gern das Küchenradio laufen lassen, wenn man | |
denn unbedingt zur Musik weinen will. | |
Aber vielleicht müssen viele erst durch Schaden klug werden. „Die Augen der | |
Zuschauerinnen und Zuschauer füllen sich mit Tränen. Sie fassen sich an die | |
Brust. Pärchen umarmen sich, schauen sich mit geröteten Augen an, singen – | |
und lachen …“ – ich wusste doch, dass von 74.000 Leuten zwangsläufig mal | |
irgendjemand lacht – „… Irgendetwas fällt in diesem Moment vom Publikum | |
ab.“ | |
Irgendetwas? Nein, nicht irgendetwas, denn wahrscheinlich handelt es sich | |
um das letzte bisschen Verstand. Darauf weist auch das Ende des Artikels | |
hin: „Ein Konzert von Adele fühlt sich an, als hätte man sich ausgeweint: | |
Irgendwie ist danach alles wieder leichter.“ Und irgendwie auch alles | |
wurscht. | |
20 Aug 2024 | |
## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
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