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# taz.de -- Mörderischer Marathon: Der lange Lauf zum schnellen Tod
> Hitze verändert den Sport massiv. Beim Marathon ist die Sorglosigkeit
> besonders verwunderlich. Wie viel Aufmerksamkeit sind uns die Opfer wert?
Bild: Erfrischung beim Halbmarathon in Hamburg 2023
Es war keine große Nachricht dieser Woche. Zumindest außerhalb
Schleswig-Holsteins musste man sich schon für Sport interessieren, um die
[1][Meldung zum Kiel-Lauf am Sonntag] zu lesen: Bei bis zu 28 Grad mussten
rund hundert Menschen wegen Kreislaufproblemen versorgt werden, 20 Menschen
landeten im Krankenhaus, ein vorbelasteter 37-Jähriger starb. Der
Wettbewerb stand vor dem Abbruch. Ausgerechnet auf die Mittagszeit hatte
man einen Halbmarathon gelegt. Offenbar entschieden die Veranstalter gegen
einen Abbruch, unter anderem aus Sorge um eine Massenpanik. Kiels
Oberbürgermeister Ulf Kämpfer (SPD) kündigte für die Zukunft neue
Hitzekonzepte an.
Der Kiel-Lauf war national eine Nullnachricht. Wegen der aufgeheizten
Asyldebatte, aber auch, weil ein Diskurs zu Sport und Klimakatastrophe
immer noch weitgehend fehlt. Der organisierte Sport tut, als ließe sich der
Klimawandel managen wie ein Polizeieinsatz: mehr Hitzepausen, mehr
Kunstschnee, und dann passt es.
[2][47.000 hitzebedingte Todesfälle z]ählte eine Studie für das vergangene
Jahr in Europa. Es war die zweithöchste Zahl seit dem Beginn solcher
Messungen 2015. Angesichts des jüngsten Herbsteinbruchs fällt es leicht zu
vergessen, dass der September wieder ein Rekordmonat war. Die Kehrseite
folgte prompt. Wegen der erwarteten katastrophalen Regenfälle und
Hochwasser wurde gerade der österreichische Wachau-Marathon abgesagt. Nicht
nur, weil die Sportler:innen gefährdet wären, sondern auch, weil die
Einsatzkräfte anderswo gebraucht werden. Die Klimakrise verändert Sport
gerade massiv und umfassend.
Eine dritte Nachricht der Woche aus dem Laufsport kam aus den USA: Tiktoker
[3][Caleb Graves] starb auf der Ziellinie eines Halbmarathons. Im letzten
Video vor seinem Tod hatte er unter dem Titel „Diese Hitze ist kein Witz“
Bedenken vor dem Lauf geäußert. Er sei am Vortag wegen Hitze kollabiert:
„Ich bin in Texas aufgewachsen und kenne Hitze, aber die Hitze und
UV-Strahlung in Südkalifornien sind nochmal was anderes.“ Wegen der
Tagestemperaturen von bis zu 41 Grad hatte der Lauf morgens um 5 Uhr
begonnen. Für Graves reichte es nicht.
## Marathon als Massenevent
Warum ist uns all das keine Debatte wert? Wer über Todesfälle bei
Laufwettbewerben spricht, muss sensibel sein. Tote bei Langläufen nämlich
sind auch ohne Hitze Normalität. Ein Vergleich 2019 unter Veranstaltern
weltweit ergab, dass jeder 40.000. Teilnehmende beim Marathon stirbt. Oft
spielen unerkannte Herzerkrankungen eine Rolle. Und Selbstüberschätzung.
Die ehemals randständige Extremdisziplin ist in der
Hochleistungsgesellschaft zum Massenevent geworden.
Wie routiniert dieses Sterben hingenommen wird, auch das schon ist
verstörend. Dabei gäbe es erfolgreiche Gegenmaßnahmen. In Italien
beispielsweise müssen Marathonläufer:innen schon seit 1980 einen
Medizincheck nachweisen. Laut dem österreichischen Standard habe das die
Todesrate um fast 90 Prozent gesenkt. In einer Disziplin, wo man so
selbstverständlich stirbt und sterben lässt, tut man sich vielleicht auch
mit dem Sprechen über Klimaopfer schwer.
Zum ersten Mal ganz groß geredet hat die Welt über das Laufen in der
Klimakrise bei der Leichtathletik-WM in Katar 2019. Bei einem skurrilen
Marathon um Mitternacht kamen von 68 Starterinnen nur 40 ins Ziel. Bilder
von entkräfteten Stars im Rollstuhl gingen um die Welt. Doch diskutiert
wurde damals kaum klimapolitisch, sondern vor allem geopolitisch: Wie
ungeeignet Katar doch als Gastgeber von Sportveranstaltungen sei.
Wenn hingegen Läufe in Deutschland klimatisch zum Gesundheitsrisiko werden
wie zuletzt in Kiel oder im April beim Hamburg-Marathon, findet die
Öffentlichkeit das weniger bemerkenswert. Eine entgrenzte Gesellschaft und
ein Sport, der sich über das Verschieben von Grenzen definiert, können
diese neuen naturgemachten Grenzen schwer ertragen. Sie dürfen nicht sein.
Und wenn sie nicht ausgesprochen werden, dann sind sie es nicht.
## Bis jemand stirbt
Anders sehen das manche Betroffene. Bei den US Open 2018, die bei brutaler
Hitze ausgetragen wurden, klagte der Litauer Ričardas Berankis: „Sie werden
nichts ändern, bis jemand stirbt.“ Beim Turnier 2023, erneut unter enormer
Hitze, wiederholte der Russe Daniil Medvedev: „Ein Spieler wird sterben.“
Der Tod ist die vielleicht letzte verbliebene Grenze. Zaghaft hat es
Anpassungen, etwa durch Hitzepausen gegeben. Und auch in Deutschland wird
sich Sport verändern müssen: Mit Austragungen jenseits der Mittagszeit und
in kühleren Monaten, mehr Einsatzkräften – und mehr Absagen. Wegen
Unwetter, Überflutungen, Orkanen, zerstörter Infrastruktur.
Das ist die neue Realität. Ähnlich drängend aber ist eines: Sport neu zu
denken. Laut [4][Pionierstudie „Playing against the Clock“] hat der globale
Sport einen CO2-Fußabdruck von der Größe Dänemarks; die größten 17 Ligen
der Welt sind für fast ein Drittel davon verantwortlich.
Amateurläufer:innen haben kaum einen Anteil. Aber sie bezahlen für die
Folgen teurer als Sportprofis in ihren abgekoppelten, teils überdachten und
klimatisierten Arenen. Zeit, auch im Sport für all das Worte zu finden.
14 Sep 2024
## LINKS
[1] https://www.tagesschau.de/inland/regional/schleswigholstein/ndr-todesfall-u…
[2] /Folgen-der-Klimakrise/!6026777
[3] https://www.theguardian.com/us-news/2024/sep/11/caleb-graves-tiktoker-dead-…
[4] https://rapidtransition.org/wp-content/uploads/2020/06/Playing_Against_The_…
## AUTOREN
Alina Schwermer
## TAGS
Schwerpunkt Klimawandel
Marathon
Laufen
Sponsoring
Leichtathletik
Schwerpunkt Klimawandel
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