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# taz.de -- Klima-Urteil in der Schweiz: Legal, klimaneutral, scheißegal
> Die Schweiz hat viele schöne Seiten. Aber Klimaschutz und Menschenrechte
> sind dem Bundesrat dort bisweilen egal. Dafür sollten sich die
> Eidgenossen schämen.
Bild: Die Schweizer „It doesn’t Matter-horn“-Politik ist Käse
Ich weiß gar nicht, was ich an der Schweiz am meisten mag: die Engadiner
Nusstorte oder den Engadiner Skimarathon; das fantastische Baden in der
Limmat in Zürich oder im Vierwaldstätter See; die Älpler Makkaroni auf der
Berghütte oder die schräge Guggenmusik mit den noch schrägeren Masken in
der Luzerner Fasnacht. Oder vielleicht doch diese No-Bullshit-Haltung, mit
der sie abenteuerlustig und gleichzeitig respektvoll in die Berge gehen,
immer mit einem Zug zur Anarchie.
Der Rest der Welt liebt die Schweiz vor allem wegen ihrer pünktlichen Züge
und ihrer staubtrockenen Seriosität: die Sicherheit der Banken, die
Stabilität der Politik, die produktive Langeweile der UNO in Genf. Die
Schweiz ist erbaut auf politischem Kompromiss und dem Respekt vor den
Gesetzen.
Und dann das: Am Mittwoch erklärte der Bundesrat (die Regierung): Nö, an
das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen die
Schweiz fühlen wir uns nicht gebunden und werden uns auch nicht daran
halten. Das Gericht hatte im Frühjahr überraschend [1][der Klage der
Schweizer „Klima-Seniorinnen“ stattgegeben], die für die Klimapläne der
Eidgenossen mehr Ehrgeiz gefordert hatten. Eine überraschende juristische
Klatsche für die Konsensrepublik. Und die Schweizer Regierung sagt dem
Gericht und dem europäischen Rechtssystem für Menschenrechte jetzt offen
und offiziell: Ihr könnt uns mal.
Aber Achtung: Niemand sollte denken, das sei nur so bei unseren Nachbarn,
den Meineidgenossen. Auch in Deutschland ist auffällig: Gerade Konservative
und Wirtschaftsliberale, die normalerweise in „rechtsfreien Räumen“ den
Untergang des Abendlandes sehen, werden zu Systemsprengern, wenn sie in
Klima- und Umweltdingen vor Gericht unterliegen.
## Wildeste Anarchie in Ökofragen
Dann hilft auch der feierlichste Schwur auf die freiheitliche demokratische
Grundordnung und den Rechtsstaat nicht mehr. Dann ist es diesen Politpunks
einfach scheißegal, ob das Bundesverfassungsgericht fordert, dass mehr für
den Klimaschutz getan werden muss – man macht ein Klimaschutzgesetz mit
starken Zielen und schwachen Maßnahmen, die man nicht umsetzt. Rechtsfolge:
nix. Dann kommt die nächste Regierung und verstößt jahrelang gegen das
Gesetz. Rechtsfolge: gar nix. Und dann ändert die Regierung das Gesetz,
ohne auch nur ernsthaft probiert zu haben, es einzuhalten, etwa im Verkehr.
Auch sonst greift in Ökofragen die wildeste Anarchie um sich: Wenn
Umweltgruppen wie die Deutsche Umwelthilfe (DUH) Rechtsbruch monieren,
gegen dreckige Luft, Untätigkeit der Behörden oder Nichteinhalten der
Regeln vor Gericht ziehen und immer wieder recht bekommen – dann debattiert
das Parlament lieber, ob die DUH noch gemeinnützig ist. Wenn die
Bundesländer ihrer Pflicht nicht nachkommen, genug Windflächen auszuweisen
oder bei der Suche nach einem Atomendlager zu helfen, kommt kein
Gerichtsvollzieher.
Wenn Deutschland die Umsetzung von EU-Richtlinien blockiert, gilt das als
normale Politik. Wenn die Dieselgauner von VW ihre Kunden und die Umwelt
mit Milliardensummen betrügen, deckt sie die Politik und die Justiz lässt
sich sehr viel Zeit. Wenn wir alle rechtsstaatlich abgesegneten Regeln
gegen den Flächenfraß missachten, genehmigte Stromtrassen oder Windparks
boykottieren oder jahrzehntelang gegen gesetzliche (!) Grenzwerte für Luft,
Wasser oder für Gülle im Boden verstoßen – dann sieht darin niemand einen
Angriff auf den Rechtsstaat. Aber wenn jemand vor Autos und Flugzeugen
sitzt und den Urlaubsverkehr stört, soll er für [2][zwei Jahre ohne
Bewährung in den Knast].
Jawohl, die Schweiz sollte vor Scham rot wie Alpenglühen werden und ihre
„It doesn’t Matter-horn“-Politik schleunigst korrigieren. Aber wir sollten
uns zuerst an unsere deutsche Kartoffelnase fassen und uns erinnern: Was
die Alpen zusammenhält, ist der Permafrost. Was unsere Gesellschaft
zusammenhält, ist der Respekt vor dem Recht. Weil [3][beides gleichzeitig
bröckelt], haben wir ein ernstes Problem.
30 Aug 2024
## LINKS
[1] /Klimaschutz-als-Menschenrecht/!6000585
[2] /Haftstrafe-fuer-Klimaaktivisten/!6033096
[3] /Klimawandel-und-Tourismus/!6028051
## AUTOREN
Bernhard Pötter
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