| # taz.de -- Abschied vom Familienauto: Die Lüge des Kapitalismus | |
| > Unser Autor ist eigentlich Autohasser und hat seinen eigenen Opel Zafira | |
| > trotzdem irgendwie heiß geliebt. Warum Klimaschutz mehr Gefühl braucht. | |
| Bild: Gefühle für ein Auto hängen ja meist nicht am Verbrennungsmotor, sonde… | |
| Berlin taz | Am Ende wurde es dann doch emotional. Als wir die Kindersitze, | |
| Michael-Jackson-CDs und die Straßenkarten aus unserem Opel Zafira holten, | |
| wurde uns ein bisschen schwer ums Herz. | |
| Was hatten wir in den letzten 19 Jahren mit der braven Familienkutsche | |
| nicht alles erlebt: Die Fahrten zum Skiurlaub, vollgestopft bis unters | |
| Dach, die Dramen auf dem Rücksitz, wenn der Zuckernachschub stockte, oder | |
| auf dem Fahrersitz, wenn wieder eineR von uns fast am Steuer einschlief. | |
| Die Beulen im Pariser Verkehr, der treue Dienst als Opataxi, | |
| Frühschicht-Gefährte morgens um drei oder als Mannschaftsbus des | |
| ruhmreichen Friedenauer TSC, die [1][Ritter-Rost]-Gesänge bei den endlosen | |
| Fahrten in die Bretagne oder nach Värmland. | |
| Und jetzt also das Ende: multiples Organversagen an Benzinpumpe, Kupplung, | |
| Bremsen, ein zweites Leben als Organspender. Wir machten Abschiedsfotos und | |
| murmelten: Parke in Frieden! | |
| ## Wir sind nicht so rational, wie wir gerne wären | |
| Und ich dachte: eigentlich unglaublich. Wie ein Autohasser wie ich an | |
| dieser Tonne aus Stahl, Plastik und Gummi hängen kann. Eine Blechkiste, die | |
| wie Milliarden andere mit seinem Dieselmotor die Luft verpestet, die | |
| Straßen verstopft, die Menschen gefährdet. Und wie jemand, der seit 40 | |
| Jahren öffentlich und privat über die Autokratie in Deutschland schimpft, | |
| beim Abschied von einem solchen Gefährt(en) sentimental wird. | |
| Tja. Die Wahrheit ist: Wir sind alle nicht so rational, wie wir gerne | |
| denken. Nur wollen wir WeltretterInnen das oft nicht wahrhaben. Wir | |
| argumentieren mit CO2-Emissionen, Stickoxidwerten, | |
| Sterblichkeitsstatistiken, Investitionszyklen und Abschreibungsfristen. | |
| Aber wir ignorieren, dass Menschen [2][ihr Fahrzeug als rollende Zuflucht | |
| gegen die Welt da draußen lieben]. Dass Kohlekumpel stolz darauf sind, | |
| [3][in der vierten Generation die Braunkohle aus dem Boden zu schaufeln]. | |
| Dass Bauern weiter ihre Kühe auf ihren Moorböden halten wollen. Dass | |
| Menschen es hassen, wenn sie denken, jemand wolle ihnen ihre gemütliche | |
| Ölheizung wegnehmen. | |
| All das muss man natürlich trotzdem machen. Aber vielleicht denken wir zu | |
| wenig darüber nach, wie wir das Nötige so gestalten, dass man es mögen und | |
| wollen kann. Die Gefühle für ein Auto hängen ja meist nicht am | |
| Verbrennungsmotor, sondern an den Erinnerungen. Die kann auch ein E-Auto | |
| liefern. | |
| ## Die große Lüge des Kapitalismus | |
| Mit Kohle-Arbeitern könnte man neben Job-Alternativen auch über ihre | |
| Heimatliebe sprechen und ihnen Anerkennung zollen, uns Wärme und Licht | |
| garantiert zu haben. Bäuerinnen und Bauern sind von morgens bis abends | |
| Experten für Nachhaltigkeit, man müsste ihnen naturnahes Arbeiten aber | |
| auch ermöglichen und nachfragen. Und ihnen erst mal zuhören. | |
| Die große Lüge des Kapitalismus lautet: Es geht immer nur ums Geld. Das ist | |
| Quatsch. Sehen Sie sich um. Viel häufiger bewegen uns Anerkennung, Stolz, | |
| Liebe, Gehörtwerden, Mitreden, Mitfühlen, Bindung und Vertrauen. Weil ein | |
| Auto wahnsinnig teuer ist, war der Abschied vom Zafira für unsere Familie | |
| betriebswirtschaftlich ein Gewinn. Aber darum ging es nicht. Sondern um das | |
| Gefühl, ein Mitglied der Familie im Stich zu lassen. | |
| Irre, klar. Aber Irren ist menschlich. | |
| 8 Aug 2024 | |
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| [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Ritter_Rost | |
| [2] /Ulf-Poschardt-zur-Mobilitaetswende/!5779417 | |
| [3] /Bergbau-im-Ruhrgebiet/!5550306 | |
| ## AUTOREN | |
| Bernhard Pötter | |
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