| # taz.de -- Marathon vs. Autoverkehr: Heute gehört die Straße uns | |
| > Wenn am Sonntag in Berlin Hunderttausende auf die Straße gehen, ist das | |
| > keine Demo für eine bessere Verkehrspolitik. Aber vielleicht ein | |
| > Denkanstoß. | |
| Bild: Wie ruhig es auf diesen Boulevards sein kann, wenn man nur Getrappel von … | |
| Auf dem Weg zum Bioladen hätte es mich fast erwischt. „Es“ war in diesem | |
| Fall ein getunter weißer Mercedes, die die Hauptstraße im Berliner Bezirk | |
| Schöneberg entlangröhrte. Als er noch hundert Meter entfernt war, stieg ich | |
| von der Mittelinsel auf die Straße. | |
| Der Fahrer sah mich und gab Gas, hielt direkt auf mich zu. Als ich mich | |
| gerade zwischen zwei parkenden Autos in Sicherheit brachte, raste er knapp | |
| hinter mir vorbei. Wäre ich langsamer geworden oder gestolpert, würde wohl | |
| eine Kollegin in dieser Kolumne über das Mordwerkzeug Personenkraftwagen | |
| schreiben. Ich jedenfalls blickte auf die frischen blauen Streifen, die | |
| gerade auf die Straße gemalt worden waren und dachte: „Du Arsch, am Sonntag | |
| gehört die Straße mir.“ | |
| Denn am Sonntag ist wieder [1][Marathon in Berlin]. Zehntausende Verrückte | |
| wie ich werden sich über eine Strecke quälen, die viele Menschen nicht | |
| freiwillig mit dem Fahrrad zurücklegen. Hunderttausende werden dabei mit | |
| uns feiern. Warum wir das machen, ob das gesund ist, worauf wir uns da | |
| einlassen und was das alles kostet, darüber reden wir jetzt nicht. Sondern | |
| darüber, wie gut es tut, eine Stadt wie Berlin auf diese Weise lahmzulegen. | |
| Beziehungsweise auf die Beine zu bringen. | |
| Ein solcher Stadtlauf bringt ganz neue Eindrücke: Wir haben Vorlauf auf den | |
| großen Rennstrecken der Stadt, wo wir sonst Freiwild sind. Die Polizei | |
| schützt ausnahmsweise mal die Fußläufer vor den Autofahrern. Wir merken, | |
| wie zügig man von einem Berliner Kiez in den nächsten kommen kann, wenn der | |
| Motor die eigenen Beine sind. Wir hören, wie ruhig es auf diesen Boulevards | |
| sein kann, wenn man [2][nur Getrappel von Fußsohlen vernimmt]. Wir spüren | |
| schmerzhaft, wie kaputt die Straßen sind, wenn wir in Schlaglöchern und | |
| Spurrinnen umknicken. Und wir denken: Diese Stadt könnte sich auch anders | |
| anfühlen. | |
| ## Riesenzirkus mitten in der Stadt | |
| Selbstverständlich ist der Marathon ein Riesenzirkus mit Kommerz, Trubel, | |
| Doping und Zumutungen für die Leute, die sich frei bewegen wollen. Aber | |
| genau das ist der [3][normale Wahnsinn des Autoverkehrs] an den anderen 364 | |
| Tagen auch. Und jede Demo, Fahrradsternfahrt, Tanzparty oder großflächige | |
| Baustelle durchbricht den Alltag einer Stadt, die für die Bedürfnisse von | |
| rasenden Blechkisten gestaltet ist. Und wo „Verkehrsnachrichten“ im Radio | |
| in der Regel Meldungen rund um den Autoverkehr sind. | |
| Aber weil wir den Platz vor unserem Haus schon lange an die stehenden und | |
| fahrenden Maschinen verloren haben, sind wir froh darüber, wenn der Asphalt | |
| mal wieder für einen Moment uns gehört. Wenn da einfach Platz und Zeit ist, | |
| um irgendwas oder gar nichts zu tun, Freunde zu treffen, in den Himmel zu | |
| gucken ohne Angst, überrollt zu werden. Das dürfen wir sonst nur im Urlaub | |
| in mittelalterlichen Städten, die zu eng für Autos sind oder in diesen | |
| seltenen Menschenschutzgebieten namens „Fußgängerzonen“. | |
| Vielleicht hat die Epidemie von City-Läufen ja auch etwas mit diesem | |
| „Reclaim the Streets“-Gefühl zu tun: Wenigstens am Sonntag gehört die | |
| Straße mal für ein paar Stunden mir und meinen Kindern. Klar: Wir brauchen | |
| ein neues Verhältnis von Mensch und Auto. Auf meinen Laufschuhen steht auch | |
| was von einer „New Balance“. Und man sollte das Potenzial für Revolte beim | |
| Berlin-Marathon nicht unterschätzen. Er hat immerhin schon mal die letzte | |
| Bundestagswahl sabotiert. | |
| 29 Sep 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Bernhard Pötter | |
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